Die Fakten: Gemäss den Vernehmlassungsantworten sind sowohl die Gebirgskantone als auch die Mitte-Partei unzufrieden mit dem Verhandlungsergebnis – sie wollen Nachverhandlungen für Zusicherungen der EU, was der Bundesrat (wegen der EU) kaum erfüllen kann.
Das Stromabkommen steht auf der Kippe – oder ist es schon tot?

Die Details: Die Regierungskonferenz der Gebirgskantone hat dem Bundesrat gestern Donnerstag ihre Vernehmlassungsantwort zu den Rahmenverträgen geschickt (PDF). Die Stellungnahme hat es in sich. Die «Alpen-Opec» – so der Übername der Konferenz als mächtiger Zusammenschluss der Wasserkraft-Kantone – kann dem Stromabkommen «nur unter wesentlichen Vorbehalten» zustimmen. Die Begründung ist hart – aber sachlich fundiert:
- Den Kantonen fehlt es an der nötigen «Rechtssicherheit», weil der Geltungsbereich des Abkommens «signifikante Unklarheiten» aufweise.
- Der Bundesrat betone zwar in seinen Erläuterungen (PDF), dass das Stromabkommen «keine Vorgaben» zur
Wasserkraft enthalte. Wasserzinsen oder Konzessionsvergabe seien «nicht erfasst» und die Schweiz von zahlreichen Regelungen der EU «nicht betroffen». - Doch das sei bloss die «einseitige Vertragsauslegung durch den Bundesrat».
- Weil das Stromabkommen für alle Belange der Stromregulierung gelte, befürchten die Kantone, dass einige EU-Richtlinien, die im Moment im Abkommen nicht erwähnt werden, dann eben doch gelten – und die Souveränität der Kantone beschneiden.
Die Forderung: Die Gebirgskantone wollen deshalb vom Bundesrat, dass er mit der EU abklärt, ob tatsächlich Wasserzins und Konzessionsvergabe unangetastet bleiben. Es brauche einen «übereinstimmenden Parteiwillen», damit der Geltungsbereich «glasklar» sei. Dies müsse der Bundesrat in der Botschaft «verbindlich» darlegen.
Das heisst: Die Gebirgskantone fordern Nachverhandlungen.
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Die Taktik der Verhandler fliegt auf: Die Gebirgskantone schreiben zudem, wie die Verhandler im Bundesamt für Energie vorgegangen sind. Sie hätten «delikate Bereiche im Bereich der Wasserkraft seitens der Schweiz bewusst nicht ansprechen wollen, um keine «schlafenden Hunde» zu wecken.» Gemäss mehreren Quellen hat die Schweiz auch bei anderen Fragen, zum Beispiel bei der Personenfreizügigkeit, nach dem Vogel-Strauss-Prinzip den «Kopf in den Sand» gesteckt.

Für die Gebirgskantone ist diese Verhandlungstaktik ein kapitaler Fehler: Sie schreiben: «Für die Rechtssicherheit ist dies aber kontraproduktiv. Wenn man nämlich um problematische Bereiche weiss, diese aber nicht anspricht, nimmt man Rechtsunsicherheit in Kauf. Klarheit über den Willen der Vertragsparteien kann also nur dann hergestellt werden, wenn auch delikate Aspekte angesprochen und explizit geklärt werden. Nur auf dieser Basis kann im vollen Wissen um die Tragweite entschieden werden, ob ein Vertrag unterzeichnet werden soll oder nicht.»
Das Fazit: Die Regierungsräte geben den Diplomaten den Tarif durch.
Die Mitte hat diese Argumentation übernommen: Der «Geltungsbereich wirft Fragen auf, welche nach Ansicht der Mitte einer Klarstellung bedürfen» schreibt die Partei (PDF). Die Auffassung des Bundesrates, dass die Schweiz von EU-Regulierungen, die im Abkommen nicht erwähnt werden, auch nicht betroffen sei, erachtet die Mitte als «gewagt»und «in keiner Weise staatsvertraglich abgesichert». Der Bundesrat müsse von der EU eine «Bestätigung» dieser Vertragsauslegung einholen.
Meine Prognose: So eine Bestätigung wird die EU der Schweiz nie geben. Sie würde damit entweder auf die Weiterentwicklung der Strompolitik oder die Einheitlichkeit des Rechts im Strommarkt der EU verzichten.
Die Gebirgskantone haben entdeckt, wovor Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und die Mehrheit der Parteien den Kopf in den Sand stecken: Die Rahmenverträge bedeuten Souveränitäts- und Demokratieverlust.
Und dann noch dies: Die Gebirgskantone verweisen auf das «Auslegungsmonopol des EuGH». Deshalb sei das Schiedsgericht «verpflichtet, bei Auslegung unionsrechtlicher Begriffe die Streitfrage dem EuGH vorzulegen. Die Antwort des EuGH ist dann für das Schiedsgericht bindend.»
Die Analyse: Das ist alles nicht neu, es steht so glasklar in den Verträgen – und vor allem gilt es für alle institutionellen Protokolle in allen Verträgen, welche der Bundesrat dem Parlament vorlegen will: Der Geltungsbereich ist unklar. Und was unklar ist, wird durch die Streitbeilegung geklärt, wo das «Auslegungsmonopol» des Gerichtshofes der EU gilt. Das Schiedsgericht wendet dessen (vergangene und künftige) Rechtssprechung an – oder es muss ihn um eine «Entscheidung» bitten, die dann verbindlich ist.
Fazit: Was unklar ist, wird durch EU-Recht und dessen Auslegung durch den EuGH gefüllt.
Meine Beurteilung: Wer sicher sein will, was zum Beispiel im Bereich der Personenfreizügigkeit, der Wirtschaftsregulierung, der Lebensmittel (und damit der landwirtschaftlichen Produktion) auf die Schweiz zukommt, muss die gleiche Frage wie die Gebirgskantone im Bereich Strom dem Bundesrat stellen: Klärt den Geltungsbereich! Die Vogel-Strauss-Verhandlungstaktik der Diplomaten wird zum politischen Rohrkrepierer. Sie sind selber schuld.
