Interview zur Laborthese als Ursprung der Covid-Pandemie

Daniel Koch: «Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Virus aus einem Labor entkommen ist»

«Solche Experimente sind extrem riskant.» Daniel Koch, ehemaliger Leiter der Abteilung übertragbare Krankheiten des BAG, über die Gain-of-function-Forschung. Bild: Keystone

Die Fakten: Der Gesundheitsexperte schliesst einen Ursprung des Covid-Virus im Institut für Virologie in Wuhan nicht aus und verweist auf historische Präzedenzfälle wie den Influenza-Ausbruch der 1970er Jahre.

  • Er betont jedoch, dass die Herkunft des Virus letztlich weniger wichtig sei als die Reaktionen der Weltgemeinschaft, und kritisiert insbesondere die Weltgesundheitsorganisation WHO und Chinas Umgang mit der Pandemie.

Warum das wichtig ist: Koch verantwortete als Leiter der Abteilung «Übertragbare Krankheiten» beim Bundesamt für Gesundheit die Reaktion der Schweiz auf die erste Welle der Pandemie und hatte dadurch wertvolle Einblicke in die Geschehnisse.

Die wichtigsten Aussagen:

«Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Virus aus einem Labor entkommen ist und sich dann verbreitet hat. In den 1970er-Jahren geschah dies bereits mit einem Influenza-Virus – ironischerweise mit jenem Virus, das vor über 100 Jahren die Spanische Grippe ausgelöst hat.»

«Die WHO stand unter immensem Druck und wollte die Pandemie bestmöglich bewältigen. Dennoch muss sie sich Kritik gefallen lassen.»

«Dass die WHO reformiert werden muss, steht schon lange auf der Agenda. Ich bin jedoch dagegen, einfach Mittel zu streichen oder die Organisation abzuschaffen.»

«Die gesamte Virenforschung – und das gilt ebenso für Bakterienforschung – bewegt sich in einem Bereich, der nahe an biologischen Waffen liegt. Solche Forschung ist heikel und birgt grosse Risiken.»

«Eine neue Pandemie wird es geben, die Frage ist nur wann. Es kann ein Laborunfall sein oder ein natürlicher Übersprung.»

Herr Koch, die «NZZ» hat diese Woche publik gemacht, dass dem deutschen Bundesnachrichtendienst bereits seit 2020 Informationen vorliegen, wonach die Corona-Pandemie mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit aus einem Labor stammt – konkret aus dem Institut für Virologie in Wuhan. Auch andere Geheimdienste, darunter die CIA, haben ähnliche Hinweise gemeldet. Wie haben Sie darauf reagiert?

Daniel Koch: Das Thema wurde von Anfang an diskutiert: Ist das Virus aus einem Labor entwichen, oder hat es einen natürlichen Ursprung? Beides ist möglich. Es wird jedoch schwierig sein, genau herauszufinden, was passiert ist. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Virus aus einem Labor entweicht und sich dann verbreitet. In den 1970er-Jahren geschah dies bereits mit einem Influenza-Virus – ironischerweise mit jenem Virus, das vor über 100 Jahren die Spanische Grippe ausgelöst hat. Seither zirkuliert es als eines von vielen Grippeviren. Ein Laborunfall wäre also nicht überraschend. Doch viel wichtiger als die Frage nach dem Ursprung ist für mich, wie China und die Welt auf den Ausbruch reagiert haben und welche Fehler gemacht wurden.

Sie sprechen China an. Als Ursprungsland der Pandemie spielte es eine entscheidende Rolle. Bereits zu Beginn der Pandemie gab es Berichte darüber, dass China unabhängigen Forschern keinen uneingeschränkten Zugang gewährte, um den Ursprung der Pandemie zu untersuchen. Ist es überhaupt noch möglich, das Geschehen zu rekonstruieren? Und wie sehr muss man China für das Verhalten in dieser Angelegenheit kritisieren?

Man muss China kritisieren – nicht nur wegen mangelnder Bemühungen, den Ursprung des Virus aufzuklären, sondern insbesondere wegen der restriktiven Kommunikationspolitik im Umgang mit dem Ausbruch und der Pandemie. Auch die WHO hat Fehler gemacht. Eine ihrer ersten Reaktionen war der Besuch des Generalsekretärs bei Chinas Präsidenten – eine Entscheidung, die rückblickend fragwürdig erscheint. China hat es versäumt, die Welt in einer offenen und transparenten Weise zu informieren. Aber wir wissen auch: China ist kein freies Land, sondern eine Diktatur.

«Auch die WHO hat Fehler gemacht. Eine ihrer ersten Reaktionen war der Besuch des Generalsekretärs bei Chinas Präsidenten – eine Entscheidung, die rückblickend fragwürdig erscheint.»

China bestreitet bis heute die Laborthese. Auch die WHO hält weiterhin an einem natürlichen Ursprung fest. Welche Rolle spielen dabei Chinas Einfluss auf die WHO oder finanzielle Verflechtungen? Haben Sie dazu eigene Erfahrungen gemacht?

Es ist für eine Organisation wie die WHO extrem schwierig, in einer zunehmend politisierten Welt eine unabhängige Rolle zu bewahren. Die WHO stand unter immensem Druck und wollte die Pandemie bestmöglich bewältigen. Dennoch muss sie sich Kritik gefallen lassen. Anfangs vermittelte sie den Eindruck, dass sich das Virus mit drastischen Massnahmen eliminieren lasse – eine Annahme, die von Anfang an fragwürdig war. China verfolgte diese Strategie jahrelang mit massiven Mitteln, was sich letztlich als nicht nachhaltig erwies. Man muss sagen: China war nicht der richtige Partner, um die Pandemie wirksam einzudämmen.

«China war nicht der richtige Partner, um die Pandemie wirksam einzudämmen.»

Die WHO war letztens öfters in den Schlagzeilen, wegen dem Pandemiepakt, aber auch wegen dem Austritts der USA unter Trump. Braucht die WHO Reformen und wenn ja, welche?

Dass die WHO reformiert werden muss, steht schon lange auf der Agenda. Ich bin jedoch dagegen, einfach Mittel zu streichen oder die Organisation abzuschaffen. Die WHO hat in den letzten Jahrzehnten viel zur globalen Gesundheitsverbesserung beigetragen. Sie macht Fehler, aber sie ist unverzichtbar. Ein grosses Problem ist die Finanzierung: Ein Grossteil der Mittel ist zweckgebunden, wodurch externe Akteure Einfluss nehmen können. Doch einfach auszusteigen, wie es die USA unter Trump getan haben, ist auch keine Lösung.

Kommen wir zum Virus selbst. In den USA wurden E-Mails von Dr. Anthony Fauci veröffentlicht, in denen ihm schon früh Hinweise vorgelegt wurden, dass das Virus künstlich verändert aussehen könnte. Sie waren 2020 noch im Amt. Welche Informationen lagen Ihnen damals vor?

Sehr wenige. Ich erinnere mich an einen Kongress in Grindelwald mit führenden Virologen der Schweiz, bei dem auch ein australischer Spitzenvirologe sprach, der mit Wuhan zusammengearbeitet hatte. Seine Einschätzung deutete auf einen natürlichen Ursprung hin. Ein Indiz in diese Richtung ist, dass Wuhan und die ersten Forscher, die mit dem Australier in Kontakt standen, sehr schnell die Gensequenz veröffentlicht haben. Das ermöglichte es, bereits Ende Januar weltweit PCR-Tests zu entwickeln. Wäre das Virus aus einem Labor entwichen, hätte China diese Sequenz möglicherweise nicht so rasch publik gemacht. Doch letztlich bleibt dies Spekulation. Entscheidender als der Ursprung ist, dass China sich in anderen Punkten verantworten muss – etwa, warum es die eigene Bevölkerung rigoros isolierte, gleichzeitig aber internationale Reisen ungehindert zuliess. Dadurch konnte sich das Virus in Ländern wie Italien unkontrolliert ausbreiten.

«Die gesamte Virenforschung – und das gilt ebenso für Bakterienforschung – bewegt sich in einem Bereich, der nahe an biologischen Waffen liegt. Solche Forschung ist heikel und birgt grosse Risiken.»

Ein weiteres heikles Thema ist die sogenannte Gain-of-Function-Forschung, also die gezielte Veränderung von Viren, um sie ansteckender oder gefährlicher zu machen. Es gibt Hinweise, dass die USA über Umwege das Institut in Wuhan finanziert haben. Falls das Virus aus dem Labor käme, hätten sie also indirekt dazu beigetragen. Halten Sie solche Forschungen für notwendig, um Pandemien vorzubeugen? Oder sind sie eine Gefahr, die selbst Pandemien auslösen kann?

Die gesamte Virenforschung – und das gilt ebenso für Bakterienforschung – bewegt sich in einem Bereich, der nahe an biologischen Waffen liegt. Solche Forschung ist heikel und birgt grosse Risiken. Ich glaube nicht, dass SARS-CoV-2 als Biowaffe entwickelt wurde. Falls es aus einem Labor stammt, war es wohl ein Unfall. Doch Spekulationen in diesem Bereich sind gefährlich, da sie schnell in Verschwörungstheorien abgleiten. Man muss vorsichtig sein, was man behauptet. Ich bin kein Virologe, sondern Experte für öffentliche Gesundheit, und aus dieser Perspektive kann ich sagen: Solche Experimente sind extrem riskant.

«Ich bin kein Virologe, sondern Experte für öffentliche Gesundheit, und aus dieser Perspektive kann ich sagen: Solche Experimente sind extrem riskant.»

Finanziert die Schweiz solche Forschung?

Das wäre mir nicht bekannt.

Der deutsche Virologe Christian Drosten fordert, dass die geheimen BND-Daten, die zur Einschätzung eines Laborursprungs geführt haben, veröffentlicht und wissenschaftlich untersucht werden. Welche Daten sollten offengelegt werden? Und welche Lücken gibt es noch in der Aufarbeitung der Pandemie?

Drosten hat völlig recht: Die Wissenschaft muss transparenter werden. Forschungsergebnisse sollten offengelegt werden, damit nicht nur ein kleiner Kreis von Experten darüber entscheidet. Es kann nicht sein, dass wirtschaftliche Interessen über Transparenz gestellt werden. Offenheit führt zu besseren Entscheidungen.

Was waren die grössten Fehler der Schweiz im Umgang mit der Pandemie?

Ich kann nur für die erste Welle sprechen, da ich danach nicht mehr im Amt war. Der Umgang mit Alters- und Pflegeheimen war ein Fehler. Bewohner wurden praktisch eingesperrt, selbst sterbende Menschen konnten kaum von Angehörigen besucht werden. Das war übertrieben und hätte differenzierter gehandhabt werden müssen. Den Menschen hätte eine Wahlmöglichkeit gegeben werden sollen, anstatt sie rigoros abzuschotten.

Ein weiteres kontroverses Thema war das Covid-Zertifikat. Man führte es ein, um Personen als nicht ansteckend auszuweisen – doch später wurde klar, dass die Impfung Infektionen nicht verhindert, sondern nur schwere Verläufe. Wie bewerten Sie das?

Ich war zu dieser Zeit nicht mehr im Amt, aber ich sehe das kritisch. Die Impfstrategie wurde anfangs überschätzt, und als sich zeigte, dass der Schutz vor Ansteckung nur begrenzt war, hat man nicht konsequent reagiert. Diese Fehleinschätzung hätte man früher korrigieren müssen.

Zum Abschluss: Wo sehen Sie die grössten Risiken für die nächste Pandemie?

Eine neue Pandemie wird es geben, die Frage ist nur wann. Es kann ein Laborunfall sein oder ein natürlicher Übersprung. Wichtig ist, dass wir daraus lernen: Wie reagieren wir besser? Welche Massnahmen sind wirklich effektiv? Und wie wahren wir das Gleichgewicht zwischen Grundrechtseinschränkungen und Notwendigkeiten? Diese Fragen müssen jetzt beantwortet werden.

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