Somms Memo

Wie Lorenz Arregger endlich freikam oder vom Wirken eines katholischen NGOs.

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05.07.2024
Sklavenmarkt in Algier. Le Père Pierre Dan, 1684. Bild: gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France.
Sklavenmarkt in Algier. Le Père Pierre Dan, 1684. Bild: gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France.

Die Fakten: Um christliche Sklaven freizukaufen, hatten sich seit dem 13. Jahrhundert spezielle Mönchsorden herausgebildet. Die Geschichte eines Solothurners III.
 
Warum das wichtig ist: Wer hat da wen bedroht? Die Kreuzzüge der Christen dauerten zweihundert Jahre, die muslimische Bedrohung gut tausend Jahre.
 

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Lorenz Arregger wurde im Januar 1735 ins staatliche Sklavenhaus von Algier verlegt – auch Bagno genannt. Er war am tiefsten Punkt angelangt, andere würden von der Hölle reden.
 
In der Regel lebten in einem Bagno 500 bis 600 Sklaven auf engem Raum, wobei sie sich auf meist niedrige Zellen verteilten, in denen jeweils 15 bis 16 Sklaven zusammengepfercht wurden. Man schlief auf Strohmatten oder auf dem nackten Boden. Manchmal lagen die Sklaven auch übereinander, wenn der Platz nicht ausreichte, zumal die Piraten je nach Konjunktur sehr viele Sklaven anlieferten. Am Ende gab es in Algier mehrere Bagnos.

  • Die Mahlzeiten bestanden aus grobem BrotGrütze, ranzigem Öl und Oliven
     
  • Wer Besseres wollte, stellte in der Nacht allerlei Gegenstände her, die er dann dem Gefängnispersonal verkaufte, in der Hoffnung, mehr Essen zu erhalten oder auch etwas Wein
     
  • Alle Sklaven trugen die gleiche Kleidung, die ihnen der Staat zur Verfügung stellte, die eigenen Kleider waren verkauft worden: ein Hemd, eine Tunika aus Wolle, sowie einen Mantel

n Algerien können die Winter sehr streng sein, während es im Sommer glühend heiss wird. Wenn die Sklaven, zumal die staatlichen im Bagno, oft schon nach wenigen Monaten an Krankheiten, Erschöpfung oder Misshandlung verendeten, ist das keine Überraschung. Regelmässig tobte in Algier überdies die Pest, so dass der Sklavenstaat dauernd auf Nachschub angewiesen war, – und diesen Nachschub fand man im christlichen Europa.

  • Dabei machten die muslimischen Piraten nicht bloss zur See Jagd auf Christen
     
  • Vielmehr gingen sie genauso an Land, um Sklaven einzufangen: so gut wie alle Küsten des westlichen Mittelmeers suchten sie heim
     
  • Ob in der Provence, der ToskanaApulien oder auf Sizilien: Wer hier lebte, musste sich ständig vor Überfällen der Piraten in Acht nehmen


Zahlreiche Leuchttürme aus dem Mittelalter sind übriggeblieben, die Teil des damaligen Frühwarnsystems waren. Wenn Sie heute die Toskana besuchen, achten Sie darauf: Wer würde je denken, dass hier jahrhundertelang Christen lebten, die sich ihres Lebens nie sicher sein konnten. Die weiten Strände und die sanften Hügel: Sie lagen in einer tödlichen Gefahrenzone:

  • Zumal die muslimischen Piraten alles versklavten, was ihnen in die Hände fiel: christliche KinderFrauenMänner ;– Priester und Adlige, Bauern und Fischer, Handwerker und Soldaten
     
  • Die Frauen kamen meistens ins Harem, die Männer auf die Galeere oder die Plantagen, ein guter Erlös war den Piraten immer garantiert

Oft stiessen die Piraten mehrere Kilometer ins Landesinnere vor, um Christen in ihren Dörfern zu überraschen und abzuführen. Wenn sich diese wehrten, blieben sie oft allein: Denn ihre Staaten schützten sie kaum, zumal sich die meisten Hauptstädte der diversen italienischen Stadtstaaten mit ihren Armeen und Milizen weit weg von der Küste befanden; geschweige denn Paris oder Madrid.
 
Es war eine Gefahrenzone – wie heute vielleicht ein Gebiet, das ständig von Naturkatastrophen verwüstet zu werden droht. Kein Wunder zogen die Menschen weg. Im Lauf des 17. und 18. Jahrhunderts entvölkerten sich die Mittelmeerküsten im Westen. Rette sich, wer kann.

  • Gebiete, die wir heute für die schönsten der Welt halten: Die Côte d’Azur oder die italienische Riviera waren in den Augen der Zeitgenossen etwa so populär wie heute die Wüste Gobi

 
Im Bagno traf Arregger deshalb auf andere Leidensgenossen, die aus sämtlichen Bevölkerungskreisen Europas kamen, wie er in seinem Bericht erzählt, den er 1741 verfasst hatte

  • «Ich fand da gute Gesellschaft, so gut man in der Sklaverei gute Gesellschaft haben kann. Es waren eine grosse Anzahl spanischer und irländischer Offiziere und Kadetten, von denen mehrere aus gutem Hause waren, jung und alt. Wir hatten bald Bekanntschaft gemacht und trösteten einander».

 
Die Sklaven wurden eingesetzt, um Steine zu schleppen: zu diesem Zweck wurden vier Christen wie Ochsen vor einen Karren gespannt, wobei man ihre Beine zusammengekettet hatte.

  • «Was unsere Arbeit noch beschwerlicher machte, ist, dass wir alle Tage der brennenden Sonne Afrikas ausgesetzt waren, ohne uns vom Platze rühren zu dürfen».
     
  • «Wir hatten immer Aufseher, die ohne Erbarmen waren, und die Renegaten waren noch schlimmer als die Türken».

 
Weil sie ihr Sklavendasein nicht mehr aushielten, kam es immer wieder vor, dass Christen zum Islam konvertierten, um sich so zu erlösen. Wie bei Konvertiten nicht selten zu beobachten, entwickelten sie sich zu umso unduldsameren Muslimen:

  • «Ich werde nie einen derselben, namens Jzouf, gebürtig von Arles in der Provence vergessen, den grössten Spitzbuben und Bösewicht, den man finden konnte, der uns, wenn er Geld brauchte, mit Stockschlägen behandelte, um uns solches zu erpressen».

 
Insgesamt verbrachte Arregger drei Jahre als Arbeitssklave im Bagno. 

Wenn auch seine Verwandten, der Kanton Solothurn und selbst der spanische und der französische Hof sich intensiv bemühten, ihn freizubekommen, sah es lange so aus, als ob er Afrika nie mehr verlassen könnte, – bis es den Mercedariern, einem spanischen Mönchsorden, gelang, ihn und eine ganze Reihe spanischer Offiziere und Beamten freizukaufen.

  • Im Jahr 1223 in Barcelona gegründet, hatte sich dieser Orden bald darauf spezialisiert, Christen zu befreien, zuerst in den von den Arabern besetzten Teilen Spaniens, dann Christen, die nach Nordafrika in die Sklaverei verschleppt worden waren
     
  • Das war nicht die einzige Organisation, die sich des Elends dieser Christen annahm, es gab etliche dieser Orden, und insgesamt haben sie wohl für mehrere hunderttausend Sklaven das nötige Lösegeld aufgebracht, das sie von Spendern einnahmen oder deren Familien. Eine Art NGO zur Rettung von Christen
     
  • Wenn die Mercedarier allerdings etwas auszeichnete, dann die Tatsache, dass sich ihre Mönche per Gelübde verpflichteten, sich notfalls selbst als Sklaven anzubieten, um im Austausch dafür einen anderen Christen zu retten

1738 kauften die Mercedarier Lorenz Arregger frei. Der Dey hatte 100 000 Piaster für ihn verlangt, eine Unsumme, was für Arregger und dessen Familie bedeutete, noch Jahre später Schulden zurückzuzahlen.
 
Aber war die Freiheit nicht alles Geld dieser Welt wert?
 
Zurück in Spanien, wurde Arregger – anders als die übrigen befreiten Offiziere – nicht befördert.
 
Er gab sich bitter enttäuscht. Wenn man in seinem Bericht liest, erhält man fast den Eindruck, das hätte ihn mehr gewurmt als die sechs verlorenen Jahre in Algier:

  • Und der Solothurner dankte Gott, «dass er mich als Untertan einer braven Republik geboren werden liess, die mir die Mittel lieferte, mich aus den Händen der Barbaren zu befreien … Dessen hätte ich mich wohl nie zu erfreuen gehabt, wäre ich Untertan eines mächtigen europäischen Fürsten gewesen».

 
Lorenz Arregger sollte in seiner Heimat noch eine glänzende Karriere als Politiker und Offizier machen. 1749 erhob ihn Kaiserin Maria Theresia in den Reichsfreiherrenstand. Er starb 1770 in Solothurn. Ob er seinen Enkeln je von den Jahren im Bagno erzählte, muss offenbleiben.

 Ich wünsche Ihnen ein Wochenende in Sicherheit und Freiheit

Markus Somm


Wer es genauer wissen will:


PS. Das ist mein letztes Memo vor den Ferien. Ich bedanke mich herzlich für Ihr Interesse und die vielen Reaktionen, die ich stets erhalte, was mich freut. Das nächste Memo erscheint wieder am 31. Juli.

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