Das Argument stammte aus Brüssel, weil es im Interesse von Brüssel lag.
Selbst ein junger Volontär an der Schweizer Vertretung war in der Lage, das zu durchschauen. Zumal die alte Kommission bald zur Neuen mutieren dürfte – ohne allzu viele personelle Wechsel, darüber hinaus bleiben die Diplomaten auf Seiten der EU seit geraumer Zeit dieselben.
Wir sind es, die alle zwei Jahre den Chefunterhändler auswechseln – aus Gründen der Verzweiflung oder Inkompetenz. Tick the Box. Kreuzen Sie selber an.
Dem Vernehmen nach kommen die Verhandlungen unter anderem nicht voran, weil die Schweiz die Idee einer Schutzklausel bei der Personenfreizügigkeit eingebracht hat:
- Wobei die Idee alles andere als neu ist: Sie steht als Artikel 14.2. im Freizügigkeitsabkommen (FZA), das die EU und die Schweiz 1999 unterzeichnet haben
- In Artikel 14.2 heisst es: Sollte die Zuwanderung in der Schweiz zu «schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen» führen, dann wären «Abhilfemassnahmen» gestattet
Natürlich hat die Schweiz, der EU ergeben, als wären wir ein Volk von Pudeln, von dieser Schutzklausel noch nieGebrauch gemacht.
Warum sollten wir auch?
- Seit Einführung der Personenfreizügigkeit im Jahr 2002 ist die Bevölkerung der Schweiz ja bloss um fast zwei Millionen gewachsen
Ein Klacks, eine Quisquilie, Finzelkram.
Ob Cassis und seine Unterhändler daran glauben oder sie nur taktisch so vorgegangen sind: Jedenfalls haben sie recht.
- Die Schweiz muss dringend das Gespräch über eine Schutzklausel suchen, die wir auch anwenden dürfen, ohne scheel angesehen zu werden, als hätten wir uns gerade Russland angeschlossen
Und so schwer kann es nicht sein, die EU zur Einsicht zu bringen. Wenn es nämlich einen Sonderfall gibt, was die Folgen der europäischen Personenfreizügigkeit anbelangt, dann ist das die Schweiz.
Kaum ein Land ist mehr davon betroffen. Das zeigen die Zahlen:
11,2 Millionen EU/EFTA-Bürger arbeiteten im Jahr 2019 im Ausland und gelten als sogenannte «mobile Arbeitskräfte»:
- Davon hat es 940 000 in die Schweiz verschlagen, das nicht zur EU zählt. Das sind 8 Prozent aller mobilen Erwerbstätigen in der EU
- In Deutschland sind es 2,8 Millionen, was 25 Prozent entspricht
- In Grossbritannien (kein EU-Mitglied) 2,4 Millionen oder 21 Prozent
Wenn man bedenkt, dass Deutschland und Grossbritannien ungleich grösser sind (82 Millionen bzw. 67 Millionen) als die Schweiz (8,6 Millionen), dann ist leicht zu erkennen, dass wir einem sehr viel grösseren Anteil dieser mobilen Arbeitskräfte eine Stelle verschaffen.