Somms Memo

Personenfreizügigkeit: Warum die Schweiz eine Schutzklausel braucht.

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20.06.2024
Ignazio Cassis, Maroš Šefčovič: Warten auf den Durchbruch. Bild: Keystone
Ignazio Cassis, Maroš Šefčovič: Warten auf den Durchbruch. Bild: Keystone

Die Fakten: Heute hätte Aussenminister Ignazio Cassis den für die Schweiz zuständigen EU-Kommissar Maroš Šefčovič treffen sollen. Das Meeting ist abgesagt.

Warum das wichtig ist: Offenbar stocken die Verhandlungen über die Bilateralen III. Das ist gut so.

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Gewiss, wir möchten keine Zyniker sein, wenn wir sagen: Gott sei Dank. Dass aber die Schweizer Verhandlungsdelegation, die mit der EU im Gespräch ist, zögert und zaudert, wenn sie sich nicht sogar an den Tisch festgeklebt hat, wäre eine gute Nachricht, sofern sie stimmt:

  • Wer verhandelt, sollte sich nie unter einen künstlichen Zeitdruck setzen lassen
     
  • Künstlich, weil das Argument, man möchte noch mit der alten, uns angeblich so vertrauten Kommission zu einer Einigung kommen, immer schon zu dubios war

Das Argument stammte aus Brüssel, weil es im Interesse von Brüssel lag. 
 
Selbst ein junger Volontär an der Schweizer Vertretung war in der Lage, das zu durchschauen. Zumal die alte Kommission bald zur Neuen mutieren dürfte – ohne allzu viele personelle Wechsel, darüber hinaus bleiben die Diplomaten auf Seiten der EU seit geraumer Zeit dieselben. 
 
Wir sind es, die alle zwei Jahre den Chefunterhändler auswechseln – aus Gründen der Verzweiflung oder Inkompetenz. Tick the Box. Kreuzen Sie selber an.
 
Dem Vernehmen nach kommen die Verhandlungen unter anderem nicht voran, weil die Schweiz die Idee einer Schutzklausel bei der Personenfreizügigkeit eingebracht hat:

  • Wobei die Idee alles andere als neu ist: Sie steht als Artikel 14.2. im Freizügigkeitsabkommen (FZA), das die EU und die Schweiz 1999 unterzeichnet haben
     
  • In Artikel 14.2 heisst es: Sollte die Zuwanderung in der Schweiz zu «schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen» führen, dann wären «Abhilfemassnahmen» gestattet 

Natürlich hat die Schweiz, der EU ergeben, als wären wir ein Volk von Pudeln, von dieser Schutzklausel noch nieGebrauch gemacht.
 
Warum sollten wir auch?

  • Seit Einführung der Personenfreizügigkeit im Jahr 2002 ist die Bevölkerung der Schweiz ja bloss um fast zwei Millionen gewachsen


Ein Klacks, eine Quisquilie, Finzelkram.

Ob Cassis und seine Unterhändler daran glauben oder sie nur taktisch so vorgegangen sind: Jedenfalls haben sie recht. 

  • Die Schweiz muss dringend das Gespräch über eine Schutzklausel suchen, die wir auch anwenden dürfen, ohne scheel angesehen zu werden, als hätten wir uns gerade Russland angeschlossen

 
Und so schwer kann es nicht sein, die EU zur Einsicht zu bringen. Wenn es nämlich einen Sonderfall gibt, was die Folgen der europäischen Personenfreizügigkeit anbelangt, dann ist das die Schweiz.
 
Kaum ein Land ist mehr davon betroffen. Das zeigen die Zahlen:
 
11,2 Millionen EU/EFTA-Bürger arbeiteten im Jahr 2019 im Ausland und gelten als sogenannte «mobile Arbeitskräfte»:

  • Davon hat es 940 000 in die Schweiz verschlagen, das nicht zur EU zählt. Das sind 8 Prozent aller mobilen Erwerbstätigen in der EU
     
  • In Deutschland sind es 2,8 Millionen, was 25 Prozent entspricht
     
  • In Grossbritannien (kein EU-Mitglied) 2,4 Millionen oder 21 Prozent

 
Wenn man bedenkt, dass Deutschland und Grossbritannien ungleich grösser sind (82 Millionen bzw. 67 Millionen) als die Schweiz (8,6 Millionen), dann ist leicht zu erkennen, dass wir einem sehr viel grösseren Anteil dieser mobilen Arbeitskräfte eine Stelle verschaffen.

Gewiss, sie kommen aus freien Stücken, und unsere Firmen haben sie angestellt, weil sie einen Nutzen darin sehen, gleichwohl trifft zu, dass die Schweiz sehr viele ihrer Arbeitsplätze EU-Bürgern zur Verfügung stellt – und damit den Arbeitsmarkt der EU entlastet, sprich: dort der Arbeitslosigkeit vorbeugt.
 
Dafür könnte die EU-Kommission auch einmal danke sagen – und wenn es ihr nicht bewusst ist, wäre es an unseren Diplomaten sie jedes Mal daran zu erinnern. Höflich, aber hartnäckig:

  • Wer ist da der Rosinenpicker?

 
Ebenso müsste der Kommission zu denken geben, dass ein zweites bevorzugtes Ziel für die EU-Auswanderer Grossbritannien darstellt, das ebenfalls nicht der EU angehört.
 
Kurz, ein Drittel der Leute, die die Personenfreizügigkeit nutzen, nutzen sie, um der EU den Rücken zu kehren – weil sie in Grossbritannien und der Schweiz bessere Jobs finden als zuhause.
 
Warum sind ausgerechnet diese beiden realen oder mentalen Inselstaaten für die EU-Bürger so anziehend?
 
Die Antwort ist trivial. Es hat auch mit den Sprachverhältnissen zu tun:

  • In England redet man Englisch. Die Weltsprache schlechthin. Selbst Franzosen möchten sie lernen. Warum nicht in London?
     
  • In der Schweiz dagegen sind vier Sprachen verbreitet, drei davon gelten als die Hauptsprachen unserer Nachbarn. Gibt es Angenehmeres als auszuwandern – ohne eine in einer fremden Sprache radebrechen zu müssen?

Aus diesem Grund kommen viele Franzosen vorzugsweise in die Romandie, deshalb ziehen die Deutschen nach Zürich oder Basel (auch wenn sie etwas überrascht feststellen, dass wir nicht so gerne ihr Deutsch sprechen, das sie etwas hochtrabend Hochdeutsch nennen). Und natürlich ist es für die Italiener ein Leichtes, sich im Tessin zurechtzufinden – oder auch in Zurigo, wo seit jeher schon viele Italiener leben.

  • Welcher Franzose bewirbt sich dagegen in Polen?
     
  • Wer möchte als Deutscher in Estland auf dem Strassenverkehrsamt arbeiten, wo er Formulare auf Estnisch ausfüllen darf?

Die grosse Mehrheit der europäischen Erwerbstätigen hat dazu keine Lust: 255 Millionen bleiben ohnehin zuhause. Nur 11,2 Millionen (2019) machen von der Personenfreizügigkeit Gebrauch und haben eine Stelle im Ausland angetreten; das sind keine 5 Prozent (4,2 Prozent).
 
Was sagt uns das?
 
Die Personenfreizügigkeit, die die EU als Prinzip verteidigt, als hinge davon ihr Überleben ab, wird von den EU-Bürgern kaum genutzt – und wenn, dann um die EU zu verlassen.

  • Sie ist ein Fetisch


Und dass sie überhaupt einen Sinn ergibt, verdankt die EU zu einem grossen Teil zwei Nicht-Mitgliedern: Der Schweiz und Grossbritannien.
 
Oder um es mit Karl Kraus zu sagen:
 
«In keiner Sprache kann man sich so schwer verständigen wie in der Sprache.»

Ich wünsche Ihnen einen ereignisreichen  Tag


Markus Somm

Gewiss, wir möchten keine Zyniker sein, wenn wir sagen: Gott sei Dank. Dass aber die Schweizer Verhandlungsdelegation, die mit der EU im Gespräch ist, zögert und zaudert, wenn sie sich nicht sogar an den Tisch festgeklebt hat, wäre eine gute Nachricht, sofern sie stimmt:

  • Wer verhandelt, sollte sich nie unter einen künstlichen Zeitdruck setzen lassen
     
  • Künstlich, weil das Argument, man möchte noch mit der alten, uns angeblich so vertrauten Kommission zu einer Einigung kommen, immer schon zu dubios war

Das Argument stammte aus Brüssel, weil es im Interesse von Brüssel lag. 
 
Selbst ein junger Volontär an der Schweizer Vertretung war in der Lage, das zu durchschauen. Zumal die alte Kommission bald zur Neuen mutieren dürfte – ohne allzu viele personelle Wechsel, darüber hinaus bleiben die Diplomaten auf Seiten der EU seit geraumer Zeit dieselben. 
 
Wir sind es, die alle zwei Jahre den Chefunterhändler auswechseln – aus Gründen der Verzweiflung oder Inkompetenz. Tick the Box. Kreuzen Sie selber an.
 
Dem Vernehmen nach kommen die Verhandlungen unter anderem nicht voran, weil die Schweiz die Idee einer Schutzklausel bei der Personenfreizügigkeit eingebracht hat:

  • Wobei die Idee alles andere als neu ist: Sie steht als Artikel 14.2. im Freizügigkeitsabkommen (FZA), das die EU und die Schweiz 1999 unterzeichnet haben
     
  • In Artikel 14.2 heisst es: Sollte die Zuwanderung in der Schweiz zu «schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen» führen, dann wären «Abhilfemassnahmen» gestattet 

Natürlich hat die Schweiz, der EU ergeben, als wären wir ein Volk von Pudeln, von dieser Schutzklausel noch nieGebrauch gemacht.
 
Warum sollten wir auch?

  • Seit Einführung der Personenfreizügigkeit im Jahr 2002 ist die Bevölkerung der Schweiz ja bloss um fast zwei Millionen gewachsen


Ein Klacks, eine Quisquilie, Finzelkram.

Ob Cassis und seine Unterhändler daran glauben oder sie nur taktisch so vorgegangen sind: Jedenfalls haben sie recht. 

  • Die Schweiz muss dringend das Gespräch über eine Schutzklausel suchen, die wir auch anwenden dürfen, ohne scheel angesehen zu werden, als hätten wir uns gerade Russland angeschlossen

 
Und so schwer kann es nicht sein, die EU zur Einsicht zu bringen. Wenn es nämlich einen Sonderfall gibt, was die Folgen der europäischen Personenfreizügigkeit anbelangt, dann ist das die Schweiz.
 
Kaum ein Land ist mehr davon betroffen. Das zeigen die Zahlen:
 
11,2 Millionen EU/EFTA-Bürger arbeiteten im Jahr 2019 im Ausland und gelten als sogenannte «mobile Arbeitskräfte»:

  • Davon hat es 940 000 in die Schweiz verschlagen, das nicht zur EU zählt. Das sind 8 Prozent aller mobilen Erwerbstätigen in der EU
     
  • In Deutschland sind es 2,8 Millionen, was 25 Prozent entspricht
     
  • In Grossbritannien (kein EU-Mitglied) 2,4 Millionen oder 21 Prozent

 
Wenn man bedenkt, dass Deutschland und Grossbritannien ungleich grösser sind (82 Millionen bzw. 67 Millionen) als die Schweiz (8,6 Millionen), dann ist leicht zu erkennen, dass wir einem sehr viel grösseren Anteil dieser mobilen Arbeitskräfte eine Stelle verschaffen.

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