Die Fakten: Glarus hielt gestern seine Landsgemeinde ab. Sie ist seit 1387 belegt – tatsächlich besteht sie schon länger.
Warum das wichtig ist: Wer wissen will, wie sich Demokratie anfühlt, muss nach Glarus kommen. Ein Vorbild für die ganze Welt.
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Auf Einladung des freisinnigen Regierungsrates Andrea Bettiga durften ich und meine Familie am Sonntag an der Glarner Landsgemeinde teilnehmen:
- Natürlich ohne Stimmrecht, wir wohnen im Kanton Zürich. Wir sind fremde Fötzel
- Aber immerhin als Gäste auf einer Bank im Ring, so dass wir alles sehen konnten
- Neben uns sass übrigens eine Abordnung der Grünen Partei: u.a. Aline Trede, Marionna Schlatter und Balthasar Glättli
Was ich ironisch fand: Denn stehen die Grünen nicht mit allem auf Kriegsfuss, was nach Tradition, was nach ein paar Jahrhunderten Schweizertum riecht? Soweit ich das beurteilen kann, kehrten auch sie beeindruckt nach Hause zurück. Zeit, um ein paar rationalistische Vorurteile zu überdenken?
- Denn alt ist diese Landsgemeinde ohne Zweifel
Veranstaltungshinweis
In einer Urkunde aus dem Jahr 1387 wird sie zum ersten Mal erwähnt, woraus aber auch hervorgeht, dass sie zu jenem Zeitpunkt schon seit einigen Jahren existiert haben muss.
- Damit ist sie etwa gleich alt wie die Landsgemeinde von Appenzell Innerrhoden, die ebenfalls seit dem 14. Jahrhundert dokumentiert ist
- Die älteste Landsgemeinde war jene von Uri: 1231 zum ersten Mal durchgeführt, dann folgten Schwyz (1294) und Unterwalden (1309)
Allerdings haben diese Innerschweizer Pioniere ihre Landsgemeinden im 19. und 20. Jahrhundert gedankenlos aufgegeben.
Gedankenlos?
- Eigentlich ist es eine Schande, wofür sich die Urschweizer jeden Tag geisseln sollten
Zu Anfang der Glarner Landsgemeinde ziehen der gesamte Regierungsrat, die Ehrengäste (darunter Bundesrat Beat Jans, BS, SP), alle Landräte sowie die kantonalen Richter zum Landsgemeindeplatz inmitten des Fleckens Glarus, angeführt von der Harmoniemusik Glarus und einer Ehrenformation der Schweizer Armee – die so schweizerisch zivil erscheint, dass man leicht vergessen könnte, dass Schweizer Soldaten einst als die Schrecken Europas galten. Eine Art Taliban des Mittelalters. Wenn ein Menschenschlag damals verhasst war, dann die Eidgenossen.
- Sie machten keine Gefangenen
- Gemäss Militärreglement waren eidgenössische Krieger verpflichtet, jeden überlebenden Feind noch auf dem Schlachtfeld abzustechen
Heute begegnen wir in Glarus einer Miliztruppe, die schon nur deshalb etwas rührend wirkt, weil alle Soldaten unterschiedlich gross sind, was ihnen einen eher gemütlichen Anschein gibt.
Währenddessen spielt die Harmoniemusik den schönen, wenn auch etwas traurigen Landsgemeinde-Einzugsmarsch, was die Behörden, Gäste und Soldaten zwingt, in einem kurios schleppenden Gang sich Richtung Ring zu bewegen.
- Und dennoch ein würdiger Einzug, ein beeindruckendes Ritual
- Jahrhunderte blicken auf uns herab
Niemand weiss, warum diese Rituale nötig sind, und das ist gerade der Sinn der Tradition. Man macht es, weil man es immer so gemacht hat.

Der abtretende Landammann (Benjamin Mühlemann, FDP) begrüsst die Landsgemeinde mit einer Rede, assortiert mit den wunderbaren Formeln:
- «Hoch geachteter Herr Landesstatthalter»
- «Hochvertraute, liebe Mitlandleute»
Und endet seine Ansprache mit der noch eindrücklicheren Wendung:
- «Ich bitte für Land und Volk von Glarus um den Machtschutz Gottes und erkläre die Landsgemeinde als eröffnet»
Sicher kommt irgendwann noch ein Mensch auf die Idee (womöglich ein Grüner), diese Formel sei zu wenig inklusiv: Was ist mit Allah, was mit jenen Menschen, die nicht an Gott glauben? Noch widersetzen sich «Land und Volk von Glarus» dem Zeitgeistli. Gott sei Dank – und ich meine das wörtlich.
- Am Ende der Rede wird geklatscht
- Nachher kommt das kaum mehr vor. Es gilt als verpönt
Nachdem die Landsgemeinde ebenso feierlich vereidigt, einige Wahlen vorgenommen (unter anderem des neuen Landammanns Kaspar Becker, Mitte) und dieser das Landesschwert (lang, silbrig glänzend) übernommen hat, führt er jetzt durch die Landsgemeinde – und er tut dies so effizient und souverän, als hätte er das seit Jahren so getan, dabei ist er erst seit zwei Minuten im Amt.
Es folgen die Traktanden:
- Steuerfuss (bleibt unverändert, der Kanton ist finanziell unter Druck)
- Dann ein «Memorialsantrag» des Heiri Hösli aus Ennenda, einem pensionierten Bauern, der damit eine «Gerechte Verteilung des Gemeindepachtlandes» erreichen will
«Ds Wort isch frii», sagt der neue Landammann. Und Hösli tritt ans Mikrophon auf der Tribüne inmitten des Rings, inmitten von Tausenden seiner Mitlandleute.
Wenn jemand die Magie einer Landsgemeinde je erleben möchte, dann muss er jetzt Heiri Hösli zuhören; einem knorrigen Wurzelmännchen, der durchaus klassenkämpferisch für mehr Gleichheit und Gerechtigkeit wirbt. Dabei besteht die schon:
- Alle sind hier gleich, jeder hat ein Recht, die Regierung zusammenstauchen (was ausgiebig Hösli tut)
- Und doch bleibt man sehr diszipliniert, die Menge allein, die zuschaut, bändigt jede politische Emotion
- Bald treten Landräte auf, am Ende die zuständige Regierungsrätin: Jeder widerspricht Heiri Hösli, aber jeder hat ihn ernst zu nehmen
Natürlich fällt sein Antrag durch – und doch spüren die Behörden die Macht des Souveräns. Nie käme es einem Glarner Politiker in den Sinn, diesen Chef zu übersehen. Selbst Hösli nicht, das arme Bäuerlein.
Insgesamt dauert die Landsgemeinde heute etwa drei Stunden. Zum Schluss zieht die Obrigkeit wieder ab, wie sie gekommen ist, und mir bleiben zwei Erkenntnisse haften:
- Demokratie braucht zivilreligiöse Rituale. Legitimation entsteht durch Tradition, nicht nur aus rationaler Einsicht
- In Zeiten der Polarisierung empfehle ich jedem, einmal an die Glarner Landsgemeinde zu pilgern. Es zeigt sich hier, dass das wirksamste Gegengift gegen Gehässigkeiten, verbale Gewalt und ideologische Erstarrung darin liegt, dem politischen Gegner im Ring, von Angesicht zu Angesicht zu begegnen. Das zivilisiert, das macht versöhnlich, das nötigt zum Kompromiss, das befördert den Pragmatismus
Übrigens wird das Landesschwert am Ende wieder sicher in seiner Scheide verwahrt. Es ist das Symbol der gerichtlichen und politischen Macht, die einst nur den Fürsten zustand, – bis die Glarner sich dieses Recht im 14. Jahrhundert selbst genommen hatten.
Das ist Freiheit.
Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Wochenbeginn
Markus Somm
PS. Ich möchte Ihnen einen Anlass, den die Basler Firma Syngenta am 28. Mai 2024 durchführt, ans Herz legen: «Konzerne in der Reputationsfalle? Zwischen Vorurteil und Verantwortung», ein höchst aktuelles, oft beunruhigendes Thema, wo die Linke eine Art ideeller Hegemonie errungen hat, die es dringend zu brechen gilt.


