So lösen Sie die Stromprobleme, Frau Martullo-Blocher
Könnte 2023 neue Energieministerin werden: Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher (SVP). Bild: Keystone
*Unsere Annahme: 2023 treten Simonetta Sommaruga (SP) und Ueli Maurer (SVP) aus der Landesregierung zurück. Für Maurer wird Magdalena Martullo-Blocher (SVP) in den Bundesrat gewählt. Sie übernimmt von Sommaruga die Leitung des Umwelt-, Verkehrs-, Energie- und Kommunikationsdepartements (UVEK), wird also neue Energieministerin.
Mitarbeit: Emanuel Höhener
Ausgangslage:
Wie Sie wissen, Frau Martullo, sind die Aussichten der Schweiz punkto Stromversorgung düster. Das Land kann sich künftig nicht mehr darauf verlassen, im Winter genug Elektrizität importieren zu können, weil voraussichtlich auch die Nachbarländer bald zu wenig Strom haben (siehe hier). Darum droht der Schweiz schon ab 2025 der Strom auszugehen, wie der Bundesrat kürzlich eingeräumt hat (siehe hier).
Mangellagen oder gar ein Blackout wären aber verheerend für die Wirtschaft und die Bevölkerungen. Schon kurze Unterbrüche bei der Stromversorgung könnten zu Schäden von vielen Milliarden Franken führen.
Noch dunkler kommen die langfristigen Aussichten daher: Wenn in den 2030er- oder 2040er-Jahren alle Kernkraftwerke der Schweiz vom Netz sind, wird rund ein Drittel der heutigen Stromproduktion weggefallen sein. Bezüglich der Grundlastproduktion sind es sogar 55 Prozent. Gleichzeitig ist mit einer viel höheren Stromnachfrage zu rechnen, weil der Verkehr elektrifiziert und die Gebäudeheizungen auf Wärmepumpen umgestellt werden sollen. Das Schweizerische Kompetenzzentrum für Energieforschung im Bereich Strombereitstellung hat letzten Herbst vorgerechnet, dass der Stromverbrauch bis 2050 um bis zur Hälfte steigen wird (siehe hier).
Darum droht dem Land in 20 bis 30 Jahren eine riesige Stromlücke. Selbst wenn die Schweiz es schafft, jedes zweite Dach mit einer Solaranlage zu bestücken, kann sie 2050 im Winter nicht einmal die Hälfte des benötigten Stroms selber produzieren. Das haben Wissenschaftler der Forschungsanstalt Empa 2019 vorgerechnet (siehe hier).
Erneuerbare Energien:
Sie sehen sicher auch, Frau Martullo: Erneuerbare Energien taugen nicht, um die Stromversorgung zu sichern. Der Bau von Windrädern in der windarmen Schweiz würde zu grossen Beeinträchtigungen der Landschaft führen, aber nicht zur nötigen Sicherheit. Geothermie befindet sich erst im Entwicklungsstadium. Das Potenzial von Biomasse ist weitgehend ausgeschöpft. Auch die Möglichkeiten für weitere Hochdruckkraftwerke sind begrenzt: Wasserkraft kann höchstens noch einen geringen zusätzlichen Beitrag leisten.
Teurer Strom: Solaranlage an der Staumauer des Muttsees. Bild: Keystone
Solaranlagen produzieren in der Nacht und bei Bewölkung keinen Strom. Darum ist Sonnenenergie insbesondere im Winter, wenn am meisten Strom nachgefragt wird, keine Lösung. Solarpanels in den Alpen liefern zwar im Winter einen deutlich höheren Strombeitrag, sind aber enorm teuer und kommen für einen grossflächigen Einsatz nicht in Frage (siehe hier).
Option Gas:
Es ist Ihnen wohl auch klar, Frau Martullo: Um die mittelfristigen Stromengpässe der Schweiz ab 2025 zu beheben, bietet sich nur der Bau von Gaskraftwerken an – sofern sich das Land nicht auf fragliche Importe verlassen will. Allerdings macht sich die Schweiz mit einer Gasstrategie ebenfalls vom Ausland abhängig. Gerade in diesen Tagen des Ukraine-Krieges wird deutlich, welche schwerwiegenden Konsequenzen die Abhängigkeit des Westens von russischem Erdgas hat.
Der Bundesrat hat vor einigen Tagen bekannt gegeben, dass er die Engpässe ab 2025 mit dem Bau von zwei bis drei Gaskraftwerken mit einer totalen Leistung von 1000 Megawatt beheben will, die nur in Notsituationen zum Einsatz kommen (siehe hier). Es ist aber fraglich, ob diese «Peaker» ausreichen – denn im Winter fehlen der Schweiz schon heute regelmässig zwischen 3000 und 4000 Megawatt Strom. Sinnvoller wäre es darum, einen grösseren Park an Gaskraftwerken vorzusehen, der im Winterhalbjahr regelmässig am Netz wäre. Das könnten neun Anlagen mit je 400 Megawatt Leistung sein.
Anzumerken ist allerdings, dass die Schweiz damit beim Klimaschutz weit zurückgeworfen würde. Denn Gaskraftwerke mit CO₂-neutralen Biotreibstoffen oder Wasserstoff zu betreiben, bleibt angesichts der hohen Kosten und grossen Energieverlusten bei der Produktion auf absehbare Zeit eine Illusion.
Wichtig ist jedenfalls, dass die Schweiz nicht nur Gaskraftwerke baut, sondern auch für die nötige Infrastruktur sorgt. Insbesondere fehlen Gasleitungen und saisonale Gasspeicher. Ohne diese Bauten ist der Nachschub an Gas im Winter sehr schwierig bis unmöglich. Das Land würde sich in eine gefährliche, unmittelbare Auslandsabhängigkeit begeben. Der Bau von Leitungen und Speichern braucht aber deutlich mehr Zeit als der von Gaskraftwerken. Damit könnten entsprechende Lösungen zu spät für die mittelfristigen Stromengpässe der Schweiz kommen
Möglicherweise besteht ein Ausweg in der bestehenden Ölpipeline von Genua über die Alpen nach Collombey im Wallis: Diese Leitung, die einst eine Raffinerie versorgte, steht leer und könnte wieder in Betrieb genommen werden. Denn Gaskraftwerke kann man auch mit Öl betreiben. Die Verteilung des Öls zwischen Collombey und den Kraftwerken könnte per Bahn erfolgen: Ein täglicher Zug à 20 Kesselwagen pro Kraftwerk würde genügen (siehe hier).
Option Atom:
Sie, Frau Martullo, haben schon im letzten Sommer den Bau neuer Kernkraftwerke gefordert. Tatsächlich führt kein Weg daran vorbei, wenn die Schweiz ihre Klimaziele nicht aufgeben will. Auf andere Art ist eine sichere Stromversorgung langfristig nicht zu garantieren.
Entgegen allen Unkenrufen ist Atomstrom noch immer kostengünstig. Gemäss einer Studie des Paul-Scherrer-Instituts von 2019 ist für neue Kernkraftwerke im Jahr 2035 mit Gestehungskosten von 5 bis 12 Rappen pro Kilowattstunde zu rechnen. Die Kosten für Solarstrom liegen eher höher (5 bis 18 Rappen), die für Windstrom, Wasserstrom und Gasstrom sogar deutlich höher (siehe hier). Dabei sind die Kosten für die notwendigen Speicher und Leitungen noch gar nicht eingerechnet.
Selbst wenn die Kosten für den Bau eines Kernkraftwerks derart aus dem Ruder laufen wie beim finnischen Werk Olkiluoto 3, würden – über 60 Jahre Betriebsdauer gerechnet – Gestehungskosten von gerade mal 6,5 Rappen pro Kilowattstunde resultieren.
Billiger werden dürfte dagegen der Strom aus der Grossanlage Barakah in Abu Dhabi. Dort entstehen vier Reaktoren der Generation III mit einer Leistung von je 1450 Megawatt, zu überschaubaren Kosten von insgesamt 20,4 Milliarden Dollar. (Zum Vergleich: Das KKW Gösgen hat eine Leistung von 1060 Megawatt.) Zwei der vier Reaktoren sind bereits in Betrieb. Barakah wird unter Leitung des südkoreanischen Stromversorgers Kepco erbaut (siehe hier). Die Schweiz sollte sich in Südkorea erkundigen, unter welchen Bedingungen der Bau solcher Anlagen in unserem Land möglich ist.
Häufig wird gefordert, dass nur der Bau von Kernkraftwerken der Generation IV infrage kommt, die noch sicherer als Anlagen der Generation III sind und viel weniger langlebige Abfälle produzieren. Auf solche Anlagen muss man keineswegs noch mehrere Jahrzehnte warten, wie oft behauptet wird: Denn seit letztem Jahr betreibt China in der Anlage Shidao Wan einen Hochtemperatur-Kugelhaufen-Reaktor des Typs HTR-PM. Dieser Reaktor mit einer Leistung von 200 Megawatt gehört zur Generation IV.
Atomanlage Barakah in Abu Dhabi. Bild: Keystone
Kontakte nach China zeigen, dass die Spezialisten dort in der Lage wären, der Schweiz innert kurzer Frist eine Offerte für den Bau von Anlagen des gleichen Typs zu machen. Ideal wären Reaktoren mit je 600 Megawatt Leistung. Zum Ersatz des bestehenden AKW-Parks der Schweiz wären dann sechs Anlagen nötig. Die Kosten dürften zwischen 6,2 und 6,8 Milliarden Franken pro 1000 Megawatt Leistung liegen. Leider interessiert sich Bundesbern bisher nicht für diese Möglichkeit.
In der Schweiz müssen allerdings zuerst die Voraussetzungen für den Bau neuer Kernkraftwerke geschaffen werden. Erstens gilt es, das Land das gesetzliche Verbot für den Bau neuer KKW zu streichen. Zweitens müssen die Bewilligungsverfahren gestrafft werden – so, wie der Bundesrat nun die Verfahren für den Bau von Wind- und Wasserkraftanlagen beschleunigen will. Unter diesen Bedingungen liessen sich bestimmt Investoren finden. Für die Realisierung chinesischer Technologie hätten insbesondere chinesische Banken an der nötigen Finanzierung Interesse. Es wäre ein politischer Entscheid, ob man mit chinesischen Firmen und Banken zusammenarbeiten will.
Fazit:
Der Bau von Gas- und Kernkraftwerken benötigt mehrere Jahre bis sogar Jahrzehnte Zeit. Um eine verheerende Unterversorgung der Schweiz mit Elektrizität abzuwenden – sowohl mittelfristig wie langfristig –, müssen Sie, Frau Martullo, die Weichen jetzt richtig stellen.