Leitartikel

Wie wir die Krisen und Kriege unserer Zeit bewältigen

image 20. August 2022 um 04:00
Wladimir Purin und Xi Jinping: Das 21. Jahrhundert bringt wieder die Auseinandersetzung zwischen freier und totalitärer Welt. (Bild: Keystone)
Wladimir Purin und Xi Jinping: Das 21. Jahrhundert bringt wieder die Auseinandersetzung zwischen freier und totalitärer Welt. (Bild: Keystone)
Es ist jetzt viel von «multiplen Krisen» die Rede, in denen wir stecken würden. Und ganz falsch ist der Begriff ja nicht: Wir kommen eben erst aus einer Corona-Krise. Wir haben eine «Energiekrise», eine «Klimakrise» und seit Kurzem eine «Inflationskrise», die sich zur Wirtschaftskrise auswachsen könnte. Diese Krisen würden sich «überlappen» oder sogar gegenseitig verstärken. Viele Menschen haben Angst, fürchten um ihre Zukunft.
Hinzu kommt: Wir haben seit einem halben Jahr einen Krieg vor der Haustüre. In der Ukraine lässt ein Despot auf Menschen schiessen, die nicht unter seinem Diktat leben wollen. Terrorismus und Bürgerkriege im Nahen Osten, Gewalt in Afrika und in Asien fordern mehr Todesopfer als auch schon (Link). China bedroht ein kleines Volk vor seiner Küste, das nur behalten will, was ihm seit bald achtzig Jahren lieb und teuer geworden ist.
Sicher geglaubte Wahrheiten scheint es nicht mehr zu geben. Die Welt, so könnte man meinen, steht am Abgrund eines Weltkriegs, eines «Ökozids», eines «Genozids», einer Pandemie oder sonst einer Katastrophe.

Was Krisen politisch anrichten

Bloss: Stimmt das Bild? Der Beobachter wird den Verdacht nicht los, als ob diese Krisen ziemlich vielen Leuten gerade recht kommen, den Politikern, den Intellektuellen, den Medien und der Verwaltung. Sie stellen die Symptome der Krisen oft drastischer dar, als sie bei genauer Betrachtung sind. Man bekommt den Eindruck, dass diese Kreise die Krisen fast herbeisehnen. Das hat seinen tieferliegenden, politischen Grund: Krisen setzen ausser Kraft, was den demokratischen Rechtsstaat für diese Eliten so mühsam macht. Sie kehren die Demokratie, die «Volksherrschaft» in ihr Gegenteil.
Machtteilung, institutioneller Schutz von Grundrechten, «Checks and Balances», Föderalismus, alle die grossartigen Vorkehrungen, damit Herrschaft nicht ausser Rand und Band gerät, kommen unter Druck. Krisen machen aus langsamen politischen Prozessen über Nacht verfügtes Notrecht, aus sorgfältigem und langsamem Abwägen von Vor- und Nachteilen dringliche Bundesbeschlüsse und aus ordentlichen, einmal im Jahr beschlossenen Budgets eilig verabschiedete Nachtragskredite. Krisen stärken Exekutiven auf Kosten der Legislative. In Krisen werden nicht mehr Kosten und Nutzen von Massnahmen gegeneinander abgewogen. Krisen schleifen die Schuldenbremse, die Gewaltenteilung, die demokratische Kontrolle der Regierung, die Oberaufsicht des Parlamentes über die Verwaltung und gefährden die juristische Kontrolle der Exekutiven.

Der Staat meint es gut

Krisen sind die letzte verbleibende Möglichkeit kleiner Eliten, mehr Macht zu erlangen, als ihnen in einem demokratischen Rechtsstaat eigentlich zukommt. Krisen machen Minderheiten mächtiger – auf Kosten der Allgemeinheit. Und viele in der Allgemeinheit sagen angesichts ihrer Angst vor den Krisen «der Staat soll’s richten». Und der Staat richtet dann, er macht das, was er für nötig erachtet, weil es «halt sein muss», weil es «nicht anders geht», weil «die Zeit drängt», weil es ja eine Krise ist und weil er es nur gut meint.

«Wenn Sie dem Staat die Macht geben, etwas für Sie zu tun, geben Sie ihm genau die gleiche Macht, ihnen etwas anzutun.»

Albert Jay Nock (1870-1945).

In Krisen verwischt die Trennung von Staat und Privat, dauert der Zustand an, wird sie sogar ausser Kraft gesetzt. Krisen verlangen nach Plänen, um sie zu bewältigen. Wir sind täglich mit solchen Vorschlägen konfrontiert. «Aktionsprogramme», «Strategien», «Masterpläne» treten an die Stelle von langwierigen Gesetzen und Verordnungen. Sie sind alles Kopfgeburten von Eliten, die sich nie dafür rechtfertigen müssen, dass sie über andere bestimmen.
Der Krieg ist die ultimative Krise. Der Krieg in der Ukraine ist zudem mehr als ein Gerangel um Macht und Einfluss in Kiew, mehr als Bürgerkrieg in Syrien, und mehr als die grausame Auseinandersetzung um den Zerfall von Jugoslawien in den Neunzigerjahren.

Geopolitik ist zurück

Der russische Angriff auf die Ukraine ist die erste grosse, heisse geopolitische Auseinandersetzung seit dem Ende des Kalten Krieges. Er ist nur der Vorgeschmack auf das Ringen, das (auch) dieses Jahrhundert prägen dürfte: jenes zwischen Diktaturen und der freien Welt, jene Auseinandersetzung zwischen unserer offenen Gesellschaft und dem Totalitarismus. Was wir sehen, ist die Auseinandersetzung zwischen selbstbestimmten Menschen und jenen, die sie bevormunden wollen.
Bundesrat Ueli Maurer hat deshalb nicht unrecht, wenn er im Falle der russischen Aggression von «Stellvertreterkrieg» spricht. Genau deshalb betrifft er uns mehr als ein Bürgerkrieg. Es ist richtig, dass in der Ukraine, indirekt, auch unsere Selbstbestimmung in Gefahr ist. Denn Autokraten haben nie genug. Ihr Regime beruht darauf, ihre Macht auszudehnen. In Polen, im Baltikum und in Finnland weiss man das.

Wirtschaftliche und militärische Stärke

Was tun? Es mehren sich die Anzeichen, dass diesem Machthunger nicht mit Sanktionen beizukommen ist. Der Ökonom Reiner Eichenberger hat darauf hingewiesen: Wenn die russische Wirtschaft um vier Prozent schrumpft, ist das zwar nicht gut für das Land, aber dem Diktator kann das egal sein. Er muss nur seinen Anteil an der Wirtschaft leicht erhöhen und er hat wieder gleich viele Mittel zur Verfügung.

Mit wirtschaftlicher und militärischer Stärke hat die freie Welt im letzten Jahrhundert zwei Weltkriege und einen Kalten Krieg gewonnen.


Darum: Wir werden diese Auseinandersetzung nicht mit Sanktionen gewinnen, sondern nur, wenn wir den Beweis antreten, dass unsere Gesellschaftsordnung jener der Autokraten überlegen ist, weil wir mehr Wohlstand, mehr Innovation und darauf aufbauend – wenn es zur Verteidigung nötig ist – auch mehr militärische Stärke herstellen können. Das Konzept ist erprobt: Mit wirtschaftlicher und militärischer Stärke hat die freie Welt im letzten Jahrhundert zwei Weltkriege und einen Kalten Krieg gewonnen – und die längste Phase des Friedens in Europa geschaffen. «Keine Waffe in den Arsenalen der Welt ist so mächtig ist wie der Wille und der moralische Mut freier Männer und Frauen», sagte Ronald Reagan bei seinem Amtsantritt. Er bekam früher recht, als er selbst erwarten konnte.

Zurück zu einer offenen Gesellschaft

Mit dem Sieg des Westens im Kalten Krieg vermuteten einige, das «Ende der Geschichte» und der ewige Friede sei nah. Das Gegenteil ist eingetroffen, weil sich der Westen von den Prinzipien abgewendet hat, denen er den Sieg über den Kommunismus zu verdanken hatte. Kaum jemand hat diese Prinzipien so einfach zusammengefasst wie Ronald Reagan in seiner Abschiedsrede als amerikanischer Präsident.


Das bedeutet heute, dass der Westen rasch zu den Erfolgsrezepten seiner eigenen Gesellschaftsordnung zurückfinden muss, um wieder zu wirtschaftlicher und militärischer Stärke und ideologischer Strahlkraft zu gelangen. Er muss dazu politisch zurück zu einer offenen Gesellschaft, in der die Vielen an der Wahlurne statt die Wenigen in Politik und Verwaltung entscheiden, was für alle gut ist. Er muss wirtschaftlich zurück zu einer Ordnung, in der die Vielen auf Märkten statt die Wenigen in Büros entscheiden, was für sie wichtig ist. Zu einer Gesellschaft, die Notrecht wirklich nur dann anwendet, wenn Not herrscht und die dieses Notrecht parlamentarisch, direktdemokratisch und juristisch überprüfen lässt. Er wird dann wieder Vorbild und Sehnsuchtsort für die Unterdrückten Menschen dieser Welt – und Stachel im Fleisch der Autokraten.

Was uns wirklich bedroht

Wenn wir die Auseinandersetzung mit den Bevormundern dieser Welt gewinnen wollen, dürfen wir nicht die demokratische Rechtsordnung, die demokratischen Prozesse und Machtbegrenzungen über Bord werfen, trotz aller Krisen, welche die Eliten dazu verleiten, uns genau das schmackhaft zu machen. Es wäre der Selbstmord aus Angst vor der Auseinandersetzung. Dann droht ausgerechnet das «Ende der Geschichte», der Geschichte der Freiheit, des Zeitalters der Aufklärung, des selbstbestimmten Menschen. Die letzten rund 250 Jahre «Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit» wären dann die Ausnahme in der sonst von Gewalt, Macht und Bevormundung geprägten Menschheitsgeschichte.
Darum: Nicht der Machbarkeitswahn von Politikern – in Bern, Brüssel oder anderswo – nicht «Klima-Masterpläne», «Netto-Null-Ziele», «Agenda 2030», «Energiestrategie 2050» und jetzt neu «Energiesparpläne» benötigen wir zum Sieg über die Autokraten dieser Welt und zur Bewältigung von Problemen, sondern Freiheit.

Es gibt keinen Grund zur Angst vor den Krisen und Kriegen dieser Welt, solange wir frei sind.


Denn Krisen werden – abgesehen von kurzen Notsituationen – nicht von Plänen überwunden, sondern von Menschen, deren Ideen und der Tatkraft, sie umzusetzen. Dafür benötigen Menschen Freiraum und den «Mut, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen», und deshalb ist die Freiheit der Vielen auch in der Krisenbewältigung den Plänen der Wenigen früher oder später überlegen, ja unschlagbar. Es gibt keinen Grund zur Angst vor den Krisen und Kriegen dieser Welt, solange wir frei sind.

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