Unabhängigkeit der Justiz
Das Versagen des Deutschen Juristentags
Symbolbild (Bild: Keystone)
Der Deutsche Juristentag («DJT») ist eine ehrwürdige Institution. Seit 1860 treffen sich alle zwei Jahre in wechselnden Städten ungefähr 2’000 Fachvertreter mit dem Ziel, darüber zu diskutieren, wo und wie das Recht der Verbesserung bedarf. Doch bei Debatten bewendet es nicht. Es werden auch Beschlüsse gefasst, die im politischen Leben Gewicht haben. Max Steinbeis, der Herausgeber des «Verfassungsblogs», hat das unlängst als «Zeichen und Ausfluss des besonderen Staats- und Statusbewusstseins» bezeichnet, «das einem in Deutschland nach erfolgreichem Abschluss der Grossen Juristischen Staatsprüfung ans Revers geheftet wird».
Eingriffe in richterliche Unabhängigkeit
Beim 73. DJT stand neben aktuellen materiellrechtlichen Themen die «Unabhängigkeit der Justiz» auf der Tagesordnung. Im Vorfeld wurde da und dort ausgeführt, es gehe vor allem darum, die inakzeptablen Eingriffe in die richterliche Unabhängigkeit durch die Politik in den mitteleuropäischen EU-Staaten Polen und Ungarn zu behandeln. Diese Attacken haben in den letzten Jahren zu zahlreichen Verurteilungen durch den Gerichtshof der Europäischen Union und den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof geführt.
Unerwähnt blieb, dass der (westeuropäische) EWR/EFTA-Staat Norwegen versucht hat, in illegaler Weise die Integrität des EFTA-Gerichtshofs zu beschneiden. Je näher der 73. DJT rückte, umso klarer wurde indes, dass man sich auch mit der Unabhängigkeit der deutschen Gerichte zu befassen hatte. Die relevante Fragestellung lautete: «Empfehlen sich Regelungen zur Sicherung der Unabhängigkeit der Justiz bei der Besetzung von Richterposten?».
Verdeckte Dritteinflüsse verhindern und der Grundsatzffall Harbarth
Am 23. September 2022 stellte der Hamburger Ordinarius und ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Heribert Hirte folgenden Antrag:
«Der Deutsche Juristentag fordert zur Sicherstellung der Unabhängigkeit der Justiz die sinngemässe Erstreckung des Lobbyregistergesetzes auf die Justiz einschliesslich des Bundesverfassungsgerichts. Das beinhaltet die Offenlegung der Gutachten für akademische Titel, um verdeckte Dritteinflüsse zu verhindern. Bei Nebeneinkünften ist insbesondere die Mittelherkunft offenzulegen, ebenso wie Tätigkeiten nach Ausscheiden aus dem Richteramt einer Kontrolle darauf zu unterwerfen sind, ob es sich um nachträglich gezahlte Vergütungen für früheres Verhalten handelt.»
Der Antrag wurde am gleichen Tag mit 8 Ja-Stimmen, 39 Nein-Stimmen und 11 Enthaltungen abgelehnt. Der Proponent hatte, obwohl er seine Petition allgemein formulierte, offensichtlich den Grundsatzffall Harbarth im Auge. Am 22. November 2018 wurde der prominente, Bundeskanzlerin Merkel nahestehende, CDU-Politiker und Wirtschaftsanwalt Stephan Harbarth zum Richter am Bundesverfassungsgericht gewählt. Einen Tag danach, am 23. November 2018, wurde er Vizepräsident. Im Juni 2020 erfolgte die Ernennung zum Präsidenten.
Geheimhaltung bei Verleihung der Honorarprofessur
Harbarth ist weder habilitiert noch verfügt er über höhere akademische Würden in Form eines Ordinariats. Nach ungeschriebenem Recht wäre das eine Voraussetzung für die Berufung zum Präsidenten gewesen. Im März 2018 hatte ihm aber seine eigene Alma Mater, die Universität Heidelberg, eine Honorarprofessur verliehen. Die beiden Gutachten wurden und werden unter Verschluss gehalten, und Harbarth selbst hat sie nicht offengelegt.
Die Begründung der Universität, die Geheimhaltung sei durch die «Wissenschaftsfreiheit» geboten, hat fasnächtliche Qualität. Das Verwaltungsgericht Karlsruheentschied lediglich, dass die Namen der Gutachter offenzulegen sind, nicht aber der Inhalt der Gutachten. Das renommierte «Handelsblatt» schrieb des Weiteren, es bestehe eine «offensichtliche finanzielle und personelle Nähe» der Universität zu Harbarth’s früherer Kanzlei. Das Rechtsmagazin LTO («Legal Tribune Online») berichtete, dass es zwischen dem neuen Honorarprofessor und einem der Gutachter persönliche Verbindungen gebe.
Auf das Bundesverfassungsgericht kann sich nur noch einer verlassen: Die Bundesregierung
Nun kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass die überschaubare Zahl der Teilnehmer und der Abstimmenden an der Sitzung der Abteilung Justiz des 73. DJT keineswegs repräsentativ für die deutsche Juristengilde war. Es scheint auch, dass sich unter den Nein-Stimmenden zahlreiche Richter befanden, die eine «Nestbeschmutzung» befürchteten und sich deshalb in einem Interessenkonflikt befanden. Trotzdem verheisst die Botschaft, die von dem Beschluss ausgeht, für die Zukunft der Gewaltenteilung nichts Gutes.
Der Harbarth-Senat des Bundesverfassungsgerichts hat nämlich in den vergangenen Jahren genau das geliefert, was die Politik von ihm erwartet hat: Unverhältnismässige Grundrechtseingriffe in Form von Ausgangssperren, Impfpflichten und Demonstrationsverboten wurden glatt durchgewinkt. Die NZZ hat festgestellt, auf das Bundesverfassungsgericht könne sich nur noch einer verlassen, die Bundesregierung. Man muss davon ausgehen, dass diese Grundrechtsrelativierung auf andere Rechtsgebiete überschwappen wird. Für die Zukunft westlicher Demokratien ist das ein schlechtes Vorzeichen. Leider ist zu befürchten, dass dieser Systemwechsel Rückwirkungen auf andere europäische Staaten einschliesslich der Schweiz haben könnte. Es droht die Dejustizialisierung der Politik auf Kosten der Bürger.
Carl Baudenbacher ist Partner in einer Zürcher Anwaltskanzlei und Gastprofessor an der London School of Economics LSE. Von 2003 bis 2017 war er Präsident des EFTA-Gerichtshofs.