Umstrittene Dissertation: Vertuscht die Universität Zürich einen Skandal?
Heisser Historiker-Zoff an der Uni. Wer hat recht? Foto: Universität Zürich (Frank Brüderli)
1995 veröffentlichte der Journalist und Autor Christoph Keller seine historische Reportage «Der Schädelvermesser». Keller beschrieb darin «im Wechselspiel von Erzählung und historischer Analyse das Wirken von Schweizer Rassenforschern, vor allem am Beispiel des Anthropologen und Rassenhygienikers Otto Schlaginhaufen (1879 bis 1973)».
Das Buch setzte damals Massstäbe und wurde hochgelobt. Die NZZ rezensierte anerkennend: «Kellers Buch gilt heute noch als hervorragende und vor allem gründliche Aufarbeitung einer Vorstellung von Wissenschaftlern, welche das Individuum anhand seiner Köpermerkmale vermessen und in Kategorien wie ‘Breitschädlige’ einteilen wollte.»
Preisgekrönt, aber umstritten
Es war daher keine Überraschung, dass 2016 eine weitere Veröffentlichung zu diesem Thema auf den Markt kam. Diesmal stammte sie aus der Feder eines Historikers, hatte also einen wissenschaftlichen Anspruch.
Es handelte sich um eine Dissertation, die den Titel «Laboratorien der Vererbung» trug. Ihr Autor: Pascal Germann, Oberassistent der Universität Bern. Germann berief sich ausdrücklich auf die Arbeit von Christoph Keller, versprach aber durch die Sichtung bisher unentdeckter Quellen, weitere Aufschlüsse über die Kooperation Schweizer Wissenschaftler mit Nazideutschland zu liefern.
Germanns Buch überzeugte zunächst und erhielt auch zwei Preise. Der NZZ-Rezensent Urs Hafner anerkannte in seiner Besprechung: «Pascal Germanns Studie holt ans Licht, was im 20. Jahrhundert Naturwissenschaften wie die Anthropologie, die Humangenetik und die Blutgruppenforschung einte.»
Allerdings stellt Hafner weiter unten auch fest: «Nicht alles, was Pascal Germann in seinem umfangreichen, überlegt komponierten Buch unterbringt, ist neu.» Und in einem Satz liest sich auch eine deutliche Kritik: «Manchmal liegt vage der Generalverdacht des irgendwie ‘Völkischen’ auf den verhandelten Diskursen, ohne dass dieser begründet würde.»
Unter Anklage
Wer die Namen der vielen in Germanns Werk «angeklagten» Biologen, Anthropologen und Mediziner in Google eingibt, stösst beispielsweise auf Alfred Ernst. Über den 1968 in Zürich verstorbenen Botaniker stehen Sätze wie: «Die beiden Zürcher Professoren (Schlaginhaufen und Ernst, Anm. d. Red.), die während ihrer Südostasienexpeditionen von den kolonialen Machtasymetrien wissenschaftlich profitiert hatten, teilten diese Verbindung zum Rassismus ebenso wie die internationale und überstaatliche Ausrichtung der eugenischen Zielsetzungen.» (S.43)
Und weiter schrieb er (S. 247): «Faktisch unterstützte Ernst die wissenschaftliche Aussenpolitik der Achsenmächte(…).» Ernst habe sich bei Kriegsbeginn «für die Ambitionen der Achsenmächte einspannen lassen» und habe angeboten, «seine Position als Vertreter eines neutralen Staates auszunutzen, um als Lobbyisten für den Kongress in Rom zu agieren.» (S. 248)
Wichtiger Briefwechsel
Der Fall von Alfred Ernst ist deshalb brisant, weil an der Universität Zürich, wo Germann als Assistent von Philipp Sarasin wirkte, auch noch Henriette Haas tätig ist. Sie ist externe Titularprofessorin am Psychologischen Institut – und die Enkelin von Alfred Ernst.
Sie schrieb 2019 einen Artikel über ihren Grossvater und den in Germanns Werk ebenfalls beschuldigten deutschen Wissenschaftler und erwiesenen Oppositionellen Otto Renner. Der Beitrag heisst «Per me si va tra la perduta gente» – und wurde in den Annalen der Biologiegeschichte veröffentlicht.
Er behandelt den überlieferten Briefwechsel zwischen den beiden Botanikern in den Jahren der Naziherrschaft in Deutschland. Wer ihn liest, kann sich kaum vorstellen, dass es sich hier um eingefleischte Opportunisten mit einer heimlichen völkischen Gesinnung handelte, wie es im Buch von Germann kolportiert wird. Da war mehr die Rede von Verzweiflung, Distanzierung und verklausulierten Botschaften, wie es in Diktaturen eben üblich ist.
«Deutschfeindlicher Marxist»
Ende 2017 reichte Haas sogar eine Anzeige beim Rechtsdient der Universität Zürich gegen den Autor ein – wegen Verdacht auf Unlauterkeit. Das heisst in diesem Fall: Einseitig recherchierte, ehrverletzende Aussagen, verschwiegene entlastende Dokumente und verdrehte Zusammenhänge. Die Dokumente, die diesem Vorwurf beigelegt wurden, sollen belegen, dass alle entlastenden Informationen, die nicht bereits öffentlich bekannt waren und in den Archiven schlummerten, im Buch von Germann weggelassen wurden.
Informationen, die Germanns Thesen widersprechen, würden gemäss Anzeige auch dann ignoriert, wenn sie sich in denselben Schriftstücken oder Archiv-Signaturen befinden, aus denen Germann ein Detail herausgepickt habe. Mittlerweilen ist noch mehr Quellenmaterial aufgetaucht, das umfassend nachweist, dass Alfred Ernst unter den Botanikern international einer der prononciertesten wissenschaftlichen Kritiker von Nazi-Deutschland war – das bezeugte er selber, das stand in den Akten des 3. Reichs und das ist auch durch andere Oppositionelle – etwa den Anatomieprofessor Hans Bluntschli – belegt.
Haas hat etwa auch eine Weisung des Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung ausgegraben, in der folgende Sätze stehen: «Von der Einladung der Professoren Dr. A. Ernst, Dr. Frey-Wyssling und Dr. E. Gäumann in Zürich ist abzusehen, da sie als deutschfeindlich bekannt sind. Prof. Ernst ist überdies Marxist, Prof. Gäumann Freimaurer.»
Unter 26 europäischen Botanikern, die von den Nazis ausspioniert worden waren, figuriert Alfred Ernst auf dem obersten Rang der Staatsfeinde mit seiner doppelten «Qualifikation» als deutschfeindlicher Marxist.
«Erbkranke Familien»
Weiter sprach sich Alfred Ernst in einem Referat (1936) an der Versammlung der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft, als er die Ergebnisse seiner Primelexperimente präsentierte, klar und deutlich gegen die Erbfolgetheorie – einen Grundpfeiler der Rassentheorie und der Sterilisation von sogenannten «erbkranken Familien» – aus.
An der Landesausstellung 1939 zeigte Ernst für die breite Öffentlichkeit auf, dass Genmutationen sich nicht zwingend als übles Schicksal von Generation zu Generation weitervererben, sondern dass sie sich spontan zur Normalität zurückbilden können. Damit entzog er dem deutschen «Gesetz zur Verhütung erkranken Nachwuchses» den Boden und spendete betroffenen Familien Trost. Haas kritisiert, dass dies im Buch weggelassen wurde.
Überdies präsentierte Germann mit dem Zoologieprofessor Rolf Nöthiger, einem ehemaligen Kuratoriumsmitglied der Klaus-Stiftung, einen Zeitzeugen, der über Sitzungen berichtet, an denen er nachweislich gar nicht teilgenommen hatte.
Diese Kritik wird nicht nur von Haas, sondern auch von Angehörigen anderer beschuldigter Wissenschaftler geteilt. Sie haben sich deshalb der Anzeige angeschlossen hätten. So sieht die Familie des Blutspezialisten Alfred Hässig in der «historischen» Aufarbeitung ein relativistisches Gebastel, das selektiv ausschliesslich Negatives sucht, den Leuten das Wort im Mund umdreht und auf logisch falschen Prämissen ruht.
Involviert in die Eugenik?
Germann weist diese Darstellung auf Anfrage zurück. Er habe nie behauptet, dass Alfred Ernst ein Nationalsozialist oder ein Verfechter der NS-Rassenhygiene gewesen sei. Vielmehr schreibe er zu Alfred Ernst explizit, dass er nirgends Sympathien zum NS äusserte.
Ernst sei aber sehr wohl in die Eugenik involviert gewesen: als Mitbegründer der Julius-Klaus-Stiftung für Vererbungsforschung, Sozialanthropologie und Rassenhygiene, und er gehörte jahrzehntelang dem Kuratorium dieser wichtigsten eugenischen Institution in der Schweiz an. Es gebe zudem zahlreiche Quellen, die belegten, dass sich Ernst positiv zur Eugenik äusserte.
Haas hingegen bestreitet das mit Verweis auf die Gründungsakten der Stiftung, die von der Skepsis ihres Grossvaters gegenüber der Eugenik zeugten. Ihm sei der eugenische Teil des Stiftungsreglements (§13) von einem Gutachter aufgezwungen worden.
«Entstellung und sachliche Fehler»
Die Universität Zürich setzte nach Eingang der Anzeige einen Gutachter ein und liess die Causa überprüfen. Am 6. Juni 2019 wurde Haas vom damaligen Rektor, Michael Hengartner, über den Ausgang des Verfahrens informiert. Der Gutachter habe festgestellt, dass die Vorwürfe aus einer «Mischung von Entstellungen und Unterstellungen sowie sachlichen Fehlern» bestünden. Haas wurde zudem aufgefordert, alle Namen von Personen anzugeben, mit denen sie wegen Germann Kontakt gehabt hätte.
Daraufhin wollte Haas wissen, worin denn die «Entstellungen» und «sachlichen Fehler» in ihrer Argumentation bestünden und bat um Einsichtnahme. Nach neunmonatiger Wartefrist wurde ihr dies im März 2020 verweigert. Begründung: Germann habe sich dagegen ausgesprochen, und der Gutachter wolle ebenfalls anonym bleiben. Es bestehe die Gefahr, dass deren Ansehen dadurch geschädigt würde.
Daraufhin reichte Haas Rekurs gegen diese Verfügung ein. Der Entscheid der Rekurskommission der Hochschulen gab Haas am 27. Mai 2021 recht und sprach ihr eine Entschädigung zu.
Belege? Oder keine Belege?
Das Gutachten, von Professor Mitchell Ash aus Wien erstellt, wurde am 15. Juli 2021 von der UZH selber aufgeschaltet, ohne dass die Betroffene je dazu angehört worden wäre.
Wer dieses Gutachten liest, muss zumindest feststellen: Es enthält keine Quellenverweise, behandelt bei weitem nicht alle monierten Kritikpunkte, geht nur höchst oberflächlich auf die Fragen ein, ob nun Alfred Ernst (oder die Widerstandskämpferin Elisabeth Schiemann) Kooperatoren der nationalsozialistischen Wissenschaft waren.
Ausserdem behauptet Ash, dass Haas keine Belege für ihre Vorwürfe geliefert hätte. Dies bestreitet Haas vehement. Ihren Artikel zu Otto Renner mit der umfassenden Beweisführung, der das Gutachten widerlege, habe sie der Uni Zürich vor dem Abschluss des Verfahrens zukommen lassen. Die Positionen könnten gegensätzlicher nicht sein.
Grundsätzlich muss man feststellen, dass viele Vorwürfe im Buch von Germann natürlich zutreffen. Einige Akteure haben der Naziwissenschaft tatsächlich zugedient. Anhänger des biologistischen Determinismus hatten aus heutiger Sicht abstruse Vorstellungen, und es ist zweifellos richtig, diesen Sachverhalt genauer unter die historische Lupe zu nehmen.
Grundlegende Prinzipien
Germann meint ferner, dass Ernst nur auf wenigen Seiten eine wichtige Rolle spiele: «Ich wollte nicht einzelne Akteure im Vordergrund meiner Dissertation stellen, sondern Forschungspraktiken, Diskurse und Institutionen beleuchten, die aber Eigendynamiken entfalten und als eigenständige Faktoren der Wissenschaftsgeschichte wirksam sind.» Haas widerspricht, denn Germann qualifiziere Ernst mehr als alle andern als eine «prägende», «massgebliche», «zentrale» oder «führende» Figur – allerdings im negativen Sinn.
Von einer prämierten Arbeit eines Historikers einer renommierten Universität muss man natürlich Unvoreingenommenheit, Quellentreue und das Bestreben nach Wahrheit erwarten. Das gilt natürlich auch für seine Kritikerin, Henriette Haas. Es wäre daher höchst interessant, die beiden in einen offenen direkten Diskurs treten zu lassen. Denn es geht bei diesem Konflikt um wesentlich mehr als um das persönliche Anliegen der Betroffenen oder die Ehrenrettung eines Grossvaters.
Es geht um grundlegende wissenschaftliche Prinzipien. Die Forschung – inklusive ihrer ethischen und erkenntnistheoretischen Massstäbe, die sie an sich selber anlegt – muss transparent und überprüfbar sein. Wenn die Vertrauenswürdigkeit der Forschung nicht garantiert werden kann, ist auch ihre Freiheit in Gefahr. Daher ist der Fall von öffentlichem Interesse.