Somms Memo #26 - Sowjet-Nostalgie
Warum das wichtig ist: Russland hat um kein Jota nachgegeben. Sein Truppenaufmarsch im Osten der Ukraine geht weiter. Putin fühlt sich im Recht. Das sehen die meisten Russen genauso.
Wer den Ukraine-Konflikt mit westlichen Augen betrachtet, kann kaum verstehen, wie selbstbewusst, wenn nicht selbstgerecht die Russen auftreten.
Zum Beispiel Sergei Wiktorowitsch Lawrow, der russische Aussenminister. Am Freitag nach den Gesprächen, die letzte Woche in Genf, Wien und Brüssel stattgefunden hatten, ohne dass man sich auch nur um einen Millimeter nähergekommen wäre, sagte er:
«Wir warten nicht ewig. Unsere Geduld geht zu Ende. Alle verstehen, dass sich die Lage nicht verbessert hat. Das Konfliktpotential nimmt zu.»
In welchem Sonnensystem ist Lawrow unterwegs? Und wie lange schon?
Der Herr der russischen Diplomatie redet, als ob es die NATO wäre, die mehr als 100 000 Soldaten an die Grenze zur Ukraine verlegt hätte und stündlich damit drohte, einzumarschieren. Stattdessen ist es Russland. Und wenn Lawrow sich Sorgen macht, dass die Situation sich verschärft, möchte man ihn fragen:
Was haben Sie geraucht?
Lawrow trägt insgesamt 13 Orden, unter anderem:
- Held der Arbeit der Russischen Föderation
- Orden der Republik Serbien
- Dostyk-Orden Klasse I und II (Kasachstan)
- Orden des Heiligen Mesrop Maschtoz (Armenien)
- Orden El Sol del Perú
- Orden der Freundschaft (Vietnam)
- Orden der Völkerfreundschaft der Republik Weissrussland
- Verdienstorden für das Vaterland der 4., 3., 2. und 1. Klasse (Russland)
Dass er so selbstsicher Forderungen stellt, liegt aber wohl kaum an diesem beeindruckenden Palmarès. Vielmehr macht die Herkunft der Orden deutlich, wo nach wie vor die Prioritäten der russischen Aussenpolitik liegen. Lawrow wurde überwiegend von Ländern geehrt, die einst zum Einflussbereich der Sowjetunion gezählt hatten.
Oder mit anderen, weniger freundlichen Worten: Es sind Länder, die jederzeit damit rechnen dürfen, von Russland zurückerobert zu werden.
Was im Westen oft verkannt wird: Die Russen, die auf uns als Aggressoren wirken, sehen sich in der Defensive. Ihnen, davon sind sie überzeugt, wurde tausendfach Unrecht getan – insbesondere, weil sich die NATO seit Ende der 1990er Jahre immer weiter nach Osten ausgedehnt hat – entgegen allen Zusicherungen, die der Westen einmal gemacht haben soll, so jedenfalls stellen es die Russen dar.
Tatsächlich ist die NATO in der jüngsten Vergangenheit beträchtlich gewachsen:
Für den Westen dagegen ist klar: Jedes Land kann selbst darüber entscheiden, ob es der NATO beitreten will. Es ist souverän.
Angesichts der Tatsache, dass zum Beispiel Polen in seiner Geschichte fast zehn Mal von den Russen annektiert oder dezimiert worden ist, war es sicher verständlich, dass sich das Land nach 1989 so rasch als möglich unter den Schutzschirm der NATO (genauer: der USA) retten wollte. Alle anderen neuen, osteuropäischen NATO-Mitglieder verfügen über ähnlich einschlägige Erfahrungen, was den russischen Imperialismus der vergangenen dreihundert Jahre anbelangt.
Die Russen sehen das nicht – oder wollen es nicht sehen, weil ihr Selbstverständnis als Ordnungsmacht im Osten ungebrochen ist, als Imperium mit einer Mission, ob russisch-orthodox, kommunistisch oder gemäss Putins Visionen.
In Tat und Wahrheit sind es nicht Putins Visionen allein, sondern der russische Präsident tut bloss, was die meisten Russen als legitim betrachten. In den vergangenen Jahren hat die Zahl jener Russen wieder zugenommen, die Russland für eine Grossmacht halten – wie eine Umfrage eines russischen Institutes ergeben hat:
Bloss 4 Prozent der Russen sehen ihr Land «definitiv nicht» als Grossmacht. Nur sehr wenige haben also vom Traum, etwas Grösseres, etwas Bedeutenderes, etwas Historisches darzustellen, Abschied genommen. Stattdessen nimmt die Nostalgie zu, wenn es um die angeblich gute alte Zeit der Sowjetunion geht. Fast die Hälfte der Befragten haben sich mit deren Zusammenbruch nie richtig abgefunden:
Fragt man die Russen nach den spezifischen Gründen ihrer Nostalgie, dann steht die «Zerstörung des einheitlichen Wirtschaftssystems» an erster Stelle.
Wenn man den Russen böse will, könnte man ihnen unterstellen, sie möchten die territoriale Einheit der einstigen Sowjetunion wiedergewinnen. Und Putin scheint solches durchaus im Sinn zu haben. Warum sonst hat er 2014 die Krim besetzt?
Vielleicht ist aber Nachsicht geboten.
- Ein einheitliches Wirtschaftssystem strebt auch die EU an – ohne dass sich jemand Sorgen machen müsste.
- Russland ist imstande – und berechtigt, Ähnliches zu vollbringen, sofern seine ex-sowjetischen Nachbarn das ebenso wünschen. Gut möglich, dass sich Putin damit begnügt – seinen Bürgern jedenfalls würde das reichen, glaubt man den Umfragen.
- Allenfalls findet der Westen Mittel und Wege, den Russen dabei behilflich zu sein.
Von der sowjetischen Nostalgie dagegen können wir die Russen nicht erlösen. Nostalgie ist keine politische Kategorie – und es ist schwer, den Russen hier entgegenzukommen, geschweige denn mit ihnen ein Gespräch zu beginnen, ohne dass wir sie als Therapeuten beleidigen: Gefühle leben von Kompromisslosigkeit, sie brennen für schwarz und weiss, sie verzehren sich nach dem Entweder Oder.
Es ist halt so. Die Russen haben den Kalten Krieg verloren. Und wer einen Krieg verliert, trägt die Konsequenzen. Diese Trauerarbeit kann den Russen niemand abnehmen.
Ich wünsche Ihnen eine Woche ohne allzu viel Nostalgie
Markus Somm