Könnte die Schweiz auf Putins Gas verzichten?

image 8. April 2022 um 10:00
Blau-gelbe Illumination in der Stadt Zürich.
Blau-gelbe Illumination in der Stadt Zürich.
Die Fakten: In der EU wird nach wie vor darüber debattiert, ob man die Öl- und Gasimporte aus Russland boykottieren soll. In der Schweiz fordern mehr als 100 Kulturschaffende ein Embargo.
Warum das wichtig ist: Je nachdem, wie abhängig ein Land von Putins Gas ist, desto mehr sträubt es sich, darauf zu verzichten, wie etwa Deutschland oder Österreich. Die Schweiz könnte einen Boykott gut verkraften.
Als stünde ein ukrainisches Sechseläuten bevor, hat die rot-grüne Stadtregierung ganz Zürich mit blau-gelben Fahnen, den Farben des von Russland bedrängten Staates, beflaggt. Die Aktion soll noch bis zum 25. April dauern, dem Tag des zürcherischen Sechseläutens. Ähnliche Zeichen der Solidarität haben auch andere Schweizer Gemeinden gesetzt:
  • Gut gemeint
  • Aber ohne jede Wirkung. Das wird Putin weder beeindrucken noch Selenski vor Putin retten

Dabei hätte es die gleiche rot-grüne Regierung von Zürich in der Hand, etwas schmerzhafteren Druck auszuüben.
Energie 360°, die frühere Erdgas Zürich, ist eine Aktiengesellschaft im Besitz der öffentlichen Hand. Haupteigentümerin ist die Stadt Zürich, Stadtrat Michael Baumer (FDP), fungiert als Verwaltungsratspräsident.
Das Erdgas, das die Zürcher für ihre Heizungen, Kochherde oder sonstige Anwendungen gebrauchen, stammt zu einem gewissen Teil auch aus Russland.
Wenn die Regierung der Ukraine helfen will, dann könnte sie das russische Gas aus ihrer Stadt verbannen. Dann würden die Zürcher mit ihrem Geld nicht mehr Putins Krieg finanzieren.
Gewiss, das ist nicht so trivial. Aber die gleiche rot-grüne Regierung hat auch darauf gedrängt, den Atomstrom aus der städtischen Energieversorgung zu entfernen – obwohl das streng physikalisch betrachtet gar nicht geht. Strom ist Strom. Niemand weiss, woher er kommt.
Beim Gas wäre das einfacher, wenn auch anspruchsvoll genug.
Immerhin, im Vergleich zu anderen Ländern, insbesondere Deutschland, würde uns ein Boykott von russischem Öl und Gas wohl leichter fallen.
Die Schweiz gehört nicht zu den grossen Abnehmern von russischem Gas.
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  • Zwar stammt 47 Prozent unseres Gases aus der Russischen Föderation
  • Doch spielt Gas als Energieträger in unserem Land eine untergeordnete Rolle, sein Anteil: 15,1 Prozent. Deshalb importieren wir bloss 1,5 Milliarden Kubikmeter im Jahr. (Deutschland: 56,3 Milliarden Kubikmeter, 2020)
  • Von mehr Belang sind Öl (43,9 Prozent) und Elektrizität (26,8 Prozent)

Deutschland dagegen bezieht 55,2 Prozent seines Gases aus Russland (2020), sowie 36,3 Prozent seines Rohöls (2018).
Vor allen Dingen kommt diesen beiden Energieträgern in unserem nördlichen Nachbarland sehr viel mehr Gewicht zu:
  • Erdgas: 26,8 Prozent
  • Mineralöl: 32,3 Prozent
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Zum Teil liegt das daran, dass Deutschlands Industrie eine andere Struktur aufweist als die schweizerische. Sie benötigt weitaus mehr Energie, besonders die chemische Industrie (nicht zu verwechseln mit der schweizerischen Pharmaindustrie) sowie die Schwerindustrie (bzw. was von ihr übriggeblieben ist) oder die Autoindustrie.
Ein Gasboykott wäre dennoch selbst für die Schweiz ein komplexes Unterfangen. Denn die schweizerischen Gaswerke kaufen ihr Gas nicht direkt in Russland ein, sondern in den umliegenden Ländern: in Deutschland, Italien, Frankreich und Holland. Welches Gas dabei aus Russland zu uns strömt, ist gar nicht genau bekannt. Es handelt sich um statistische Annahmen.
Wenn die Schweiz sich von russischem Gas befreien wollte, dann müsste sie sich auf Lieferanten beschränken, die, wie man weiss, weniger Gas aus Russland erwerben und verkaufen:
  • so etwa die Niederlande (Anteil des russischen Gases am gesamten Import: 9 Prozent)
  • oder Frankreich (17 Prozent)
  • bestimmt nicht Deutschland (55,2 Prozent), das derzeit einen wesentlichen Teil unseres Gasverbrauches befriedigt

All das machte einen Boykott «kompliziert», wie die Gasindustrie in der Schweiz selber sagt, aber nicht unmöglich. Da die meisten Gaswerke sich im Besitz der Städte und Gemeinden befinden, wären die Politiker gefordert. Also jene Leute, die oft am hörbarsten von Solidarität reden, solange sie nur reden, aber nicht handeln müssen.
Wenn es also darauf ankäme, uns moralisch zu entlasten, indem wir aufhörten, Putins Krieg mit unserem Geld zu unterstützen, dann wäre ein Boykott durchaus denkbar.
Schliesslich begünstigt uns die Geografie. Durch die Schweiz führt eine bedeutende europäische Erdgaspipeline. Lange konnten wir nur vom Norden her beliefert werden, inzwischen ist ein Bezug von Gas auch aus dem Süden zu machen. Ebenso wären wir in der Lage, über italienische Häfen LNG, Flüssiggas, aus aller Welt zu importieren. Im Gegensatz zu Deutschland verfügt Italien über entsprechende Terminals.
Fahnen oder Gas?
Urteilen Sie selbst.

Ich wünsche Ihnen ein geruhsames Wochenende Markus Somm

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