Somms Memo

1772 befürchteten die Schweizer, ihr Land würde aufgeteilt – und was das mit der Ukraine zu tun hat

image 22. Juni 2022 um 10:04
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Die Fakten: Im 18. Jahrhundert wurde Polen durch die Grossmächte geteilt. In der Schweiz brach Panik aus. Sind wir die Nächsten?

Warum das wichtig ist: Wer bestimmt über das Schicksal einer souveränen Nation? Die Frage, die sich heute den Ukrainern stellt, raubte den Schweizern im Jahr 1772 den Schlaf.


Im August 1772wurde in der Schweiz bekannt, dass Preussen, Russlandund Österreich, – drei mächtige Monarchien – sich auf dem Korrespondenzweg darauf verständigt hatten, Polenaufzuteilen.
Die Auflösung des seit Jahrhunderten unabhängigen Landes erfolgte in drei Schritten:
  • 1772 riss Preussen ein paar polnische Gebiete im Westen an sich, und Österreich ein paar im Süden, während sich Russland an Ostpolen bediente
  • 1793 verfuhr man gleich, wobei Österreich für einmal aussetzte
  • 1795 schritt man zur vollständigen Liquidation. Ganz Polen verschwand vom Erdboden. Per Federstrich, kein Schuss fiel

Nicht alle taten es mit gutem Gewissen. Maria Theresia, die habsburgische Kaiserin, die in Österreich, Ungarn, Böhmen usw. regierte, erzählte danach, das Schicksal Polens habe sie «zehn Jahre ihres Lebens gekostet», so sehr habe sie sich hinterher Vorwürfe gemacht.
Buyer’s Remorse, sozusagen, das bange Gefühl des Käufers danach, wenn er sich nicht mehr sicher ist, ob er den Rolls-Royce hätte erwerben sollen. War das wirklich nötig gewesen?
Friedrich der Grosse, der preussische König und Komplize von Maria Theresia, hatte für solche Regungen weiblicher Empathie wenig übrig.
«Sie weinte, aber sie nahm», soll er gesagt haben, «Und je mehr sie weinte, desto mehr nahm sie».
Insgesamt nahm Maria Theresia 135 000 km2. Mehr als drei Mal die Schweiz.
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Was in Osteuropa zu jener Zeit vor sich ging, sorgte in der Schweiz für tiefe Beunruhigung:
«Unsere Republikaner machen über die Teilung von Polen grosse Augen», schrieb Albrecht von Haller, der berühmte Berner Staatstheoretiker, ein Konservativer:
«Wir sehen Polens Unglück an wie einen zwar etwas entfernten Brand, dessen Ende aber niemand kennt und dessen Stärke durch seinen Fortgang zunimmt
Schon damals verstiess die Teilung natürlich gegen das gültige Völkerrecht. Und schon damals waren vor dem Völkerrecht nicht alle gleich:
  • es gab Grossmächte, die das Völkerrecht brachen, wenn es ihnen passte
  • und es gab die kleineren Staaten, die sich daranhielten, bis sie von den Grossmächten geschluckt wurden

Mit Blick auf Polen schrieb Johann Rudolf Iselin, seinerzeit ein einflussreicher Basler Jurist:
«Ich finde weder bei Pufendorf noch bei Grotius eine Stelle, wodurch dieses Verfahren könnte gerechtfertigt werden».
Samuel von Pufendorf (1632-1694) und Hugo Grotius (1583-1645) waren führende Völkerrechtler, die bis heute ernst genommen werden.
Empörung, Bestürzung, die nackte Angst.
Manche in der Schweiz fragten sich:
Sind wir als nächstes an der Reihe?
Tatsächlich schien alles darauf hinzudeuten. Seit kurzem hatten sich Frankreichund Österreich, seit Jahrhunderten Erzrivalen, in einem Bündnis zusammengefunden. Dazu sahen sie sich gezwungen, um Friedrich den Grossen zu bekämpfen, den einstigen Aussenseiter in Preussen, der es mit ein paar brutalen Kriegen fertiggebracht hatte, sein armes Land zu einer Grossmachthochzuschiessen, wenn auch einer kleinen.
Für die Schweizwar das eine tödliche Konstellation. Wenn Frankreich und Österreich sich einig waren, dann erschien das kleine Land im alpinen Zwischenraum bedroht. Stets hatte die Schweiz davon gelebt, die beiden Konkurrenten gegeneinander auszuspielen
  • zwar war man mit beiden in ewigen Friedensverträgen verbunden, wobei Frankreich uns immer näherstand. Den Kern der französischen Infanterie bildeten die Schweizerregimenter, die besten Truppen der Epoche. Dafür erhielten die Schweizer freien Zugang zum französischen Binnenmarkt
  • und natürlich berief man sich auf die Neutralität – was die Grossmächte der Eidgenossenschaft schon zu jener Zeit attestiert hatten

Neutral, egal.Eben hatte man in Polen ja erlebt, was Zusagen der Grossmächtewert waren.
Als wenig später der Sohn von Maria Theresia, Kaiser Joseph II., überraschend nach Bern zu einem unangekündigten Besuch kam, lagen die Nerven blank, zumal Joseph II. sich kurios verhielt:
  • Er liess sich ins Berner Zeughaus führen und zeigte eine «auffällige Wissbegierde», was die Berner Waffen betraf, wie der Schweizer Historiker Edgar Bonjour festhielt
  • Er fragte, ob die Verträge mit Frankreich nicht jenen mit Österreich widersprachen?
  • Insgesamt stellte der Habsburger dauernd solche «bedeutungsvoll-indiskrete Fragen»
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Die Eidgenossenschaft und ihre Nachbarn im 18. Jahrhundert.
Gerüchte jagten sich in Bern, Zürich und Basel, Krisenmeldungen kamen in Umlauf, die Schweizer bereiteten sich auf den Untergang vor.
Aus Pariswurde gemeldet, die Österreicher hätten sich heimlich bereits mit den Franzosen abgesprochen:
Die Alte Eidgenossenschaft, diese Ansammlung von souveränen Kantonen, ein Relikt aus dem Mittelalter, das unabhängig, aber militärisch verletzlich schien, da kaum gerüstet, sollte genauso wie Polen unter den Grossmächten aufgeteilt werden:
  • Die Westschweiz, inklusive Basel und Bern, ginge an Frankreich
  • Der Osten an Österreich
  • Den Süden, vor allem das Tessin, wollte man dem Königreich Sardinien (das heutige Piedmont) überlassen

Noch waren die Grenzen nicht exakt gezogen, Details sollten folgen.
Finis Poloniae, hiess es aus Polen, Finis Helvetiae? Wie wir wissen, kam es nicht dazu. 1789 war die Französische Revolution ausgebrochen, und die Grossmächte hatten anderes zu tun, als die Schweiz aufzutrennen.
Also überlebte die Schweiz. Polen dagegen blieb bis 1918 in russischer, preussischer (bald deutscher) oder österreichischer Hand.
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Schloss Versailles, wo die französischen Könige im 18. Jahrhundert residierten.
Wenn wir an die Gegenwart denken, da manch ein westlicher Experte sich schwungvoll über die Karte Osteuropas beugt, um den Ukrainern zu empfehlen, da und dort ein Stück Land an die Russen abzutreten, in der Hoffnung, dafür Frieden zu bekommen, dann lohnt es sich vielleicht, diese Experten ans 18. Jahrhundert zu erinnern.
Grossmächte kennen keine Moral. Und auch wenn sie politisch korrekt weinen, nehmen sie. Kleinstaaten tun gut daran, das in Rechnung zu stellen.
Übrigens stellte sich die Meldung aus Paris als Fake News heraus. Womöglich stammte sie von einem französischen Diplomaten, der die Schweizer dazu bewegen wollte, endlich der Erneuerung des Soldvertrageszuzustimmen. Jahrelang hatte man darum gestritten.
Nun, die Angst vor der Auflösung ihres Landes im Nacken, gaben die Eidgenossen ganz schnell nach. Sie unterzeichneten und stellten keine Fragen mehr.
Offiziell äusserte sich die Eidgenossenschaft nie zur Teilung von Polen. Als der Vorort Zürich von den übrigen Kantonen wissen wollte, wie man sich verhalten sollte, antwortete die Luzerner Regierung:
In Anbetracht der so schweren «Staatsveränderung» in Polen, teile man «die klugen Gesinnungen» des Zürcher Bürgermeisters.
Dieser hatte empfohlen, sich nicht in die europäischen Angelegenheiten einzumischen. Schliesslich war man neutral.

Ich wünsche Ihnen einen neutralen Tag
Markus Somm

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