Somms Memo
Siegt die Ukraine? Ist Putin am Ende? Vorschneller Triumph ist eine andere Art von sicherer Niederlage.
Verlassene russische Panzer in der Ukraine.
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Die Fakten: Die Ukraine meldet die Wiedereroberung grosser Gebiete des eigenen Landes. Russland bestätigt den Rückzug, spricht aber von «Umgruppierung».
Warum das wichtig ist: Militärisch ist das vermutlich der bisher bedeutendste Erfolg der Ukrainer. Steht Putin vor der Niederlage?
Noch sind die Informationen von keiner unabhängigen Stelle bestätigt worden, doch es macht allen Anschein, dass die Russen sich nicht geordnet zurückgezogen haben, wie sie selber behaupten, sondern dass sie buchstäblich um ihr Leben rennen
- Die ukrainische Regierung hat Bilder veröffentlicht, die verlassene, zum Teil noch intakte Panzer, Lastwagen und Munitionslager zeigen. Es ist ein Bild der Auflösung, ein Gemälde des überstürzten Abhauens
- Das Gebiet in der nordöstlichen Provinz Charkow (Charkiw), das die Ukrainer innert weniger Tage wiederbesetzt haben, ist riesig: gut 8000 km2. Das entspricht etwa einem Fünftel der Schweiz, und umfasst die strategisch bedeutsame Stadt Isjum. Strategisch bedeutsam, weil man hier den Donez, einen Fluss, überqueren kann
Mit anderen Worten, zum ersten Mal seit Beginn des Krieges, machen die Ukrainer offensive Fortschritte, und zum ersten Mal, so hört man aus Moskau, gelingt es der russischen Regierung und ihren beflissenen Medien kaum mehr, einen Misserfolg propagandistisch in Luft aufzulösen:
- Das russische Verteidigungsministerium bestätigt den Rückzug, betont allerdings, es handle sich um eine «Umgruppierung», was an die kreativen Meldungen erinnert, die die Sowjetunion seinerzeit aus Afghanistan heimfunkte: tapfer, aber ohne Wahrheitsgehalt, um die Menschen an der Heimatfront nicht zu beunruhigen
- Indem das Verteidigungsministerium die faktische Aufgabe von Territorium einräumte, desavouierte es zum Teil die eigenen Staatsmedien
- Manche unter ihnen hatten es vorgezogen, schlicht nichts vom Rückzug zu berichten. Oder sie stellten die Wirklichkeit auf den Kopf, indem sie von «Heldentaten» der russischen Soldaten erzählten
Wenn schon Helden, warum haben sie sich dann zurückgezogen?
Jene Russen, die sich um die Kriegsberichterstattung kümmern, stecken im Dilemma, wie Mark Galeotti, ein britischer Historiker und Russlandkenner, im Spectator schreibt:
- Wie lügen wir gerade noch genug?
- Ohne zu viel zu lügen?
Galeotti hat zahlreiche Bücher über Russland und Sicherheitspolitik vorgelegt.
In totalitären Staaten sind die Menschen nicht leichter zu täuschen als anderswo, die Russen sind keineswegs naiver als wir es sind.
Wenn wir im Westen der Auffassung sind, die russische Regierung könnte ihren Bürgern auftischen, was sie will, dann befinden wir uns wohl im Irrtum. Manche Russen glauben den offiziellen Berichten nicht – oder nur bedingt, dennoch bleiben sie stumm. Warum?
Galeotti sagt:
- Es ist eine Frage des Aufwands, die sich jedem einzelnen Russen stellt: Soll ich mir die Mühe machen, den Dingen auf den Grund zu gehen – auf die Gefahr hin, dass ich in Schwierigkeiten komme?
- Oder einfacher gesagt: Lohnt es sich, dem eigenen Fernsehen und der eigenen Regierung zu misstrauen?
Galeotti hat seine Dissertation seinerzeit über den Afghanistan-Krieg und dessen Wirkung in der Sowjetunion geschrieben. Dabei erzählte ihm eine Mutter, deren Sohn in Afghanistan gedient hatte:
«Ich wollte nicht glauben, was die Leute mir vom Krieg berichteten, denn wenn ich das geglaubt hätte, wäre ich gezwungen gewesen, etwas dagegen zu tun oder Teil des Krieges zu werden.»
Wladimir Putin, Präsident von Russland.
Finis Putin? Ist der russische Präsident und Kriegsherr am Ende?
Wohl kaum. Aber es ist Zeit, sich mit dem Unvorstellbaren auseinanderzusetzen. Ich sehe drei Szenarien:
- Der totale Krieg: Sollte Putin zum Schluss kommen, seine Sache sei verloren, dann könnte er zum Riskanten neigen. Ein Atomschlag? Eine Massenmobilisierung?
- Zurück ins Patt: Der Vormarsch der Ukrainer stellt sich als Eintagsfliege heraus, und die Russen bringen es fertig, das Blatt zu wenden. Dann zieht sich der Krieg endlos hin. So sehr die Russen stark genug sind, sich zu halten, als so schwach haben sie sich erwiesen, den Krieg für sich zu entscheiden. Das gleiche gilt für die Ukrainer
- David besiegt Goliath: Was wir erlebt haben, ist die Wende. Die Ukraine prescht weiter voran, und die Russen rennen noch schneller um ihr Leben. Allerdings bleibt Putin rational – weil er weiss, dass er den Krieg nicht gewinnen kann, ohne seine Macht zu verlieren. Er zeigt sich zu Verhandlungen bereit
Das dritte Szenario halte ich für den wünschenswerten Fall. Nur ein ukrainischer Sieg bringt Putin zur Vernunft, und er muss rasch und entschieden erfolgen, bevor sich Putin zu Verzweiflungstaten entschliesst.
Gewiss, dieses Risiko ist nie auszuschliessen, ganz gleich, wie sich der Westen verhält. Das ist aber nur das eine Risiko.
Das andere Risiko ist nicht kleiner. Dass der Westen, jetzt, da die Ukraine am Siegen ist, sich dazu verleiten lässt, in seiner militärischen Hilfe für die Ukraine nachzulassen.
Stehen US-Präsident Joe Biden nicht unangenehme Wahlen bevor? Während Grossbritannien eine neue, unerfahrene Regierung aufweist? Von Deutschland und Frankreich, den früh ermatteten Verbündeten, die mehr Waffen beschwören als liefern, gar nicht zu reden.
Putin darf hoffen, dass der Westen hofft, den Ukrainern nun genug Hoffnung gemacht zu haben.
Wer Krieg führt – und der Westen tut das zweifelsohne – sollte unberechenbar bleiben, also entschlossen wirken, wo man gar nicht so entschlossen ist, und Risiken eingehen, vor denen man sich selbst so fürchtet, dass kein Feind sie einem zutraut.
Ganz im Sinne von Sunzi, dem grossen chinesischen Strategen:
«Um deinen Feind zu kennen, musst du wie er selbst werden.»
Ich wünsche Ihnen einen guten Wochenbeginn
Markus Somm