Grosses Interview zum Fachkräftemangel
Professor Eichenberger: «Unser Steuersystem bestraft zusätzliche Arbeit hart»
«Teilzeitarbeit ist dann ein Problem, wenn sie nicht wirklich freiwillig ist», Reiner Eichenberger. Bild: zvg
Der Fachkräftemangel ist in aller Munde: «Schon jetzt bleiben rund 120'000 Stellen unbesetzt», schlug der Arbeitgeberverband Alarm. Der Fachkräftemangel habe sich zum grössten Bremsklotz für die Schweizer Wirtschaft entwickelt, so der Dachverband. Besserung ist nicht in Sicht: Gemäss Prognosen vervielfacht sich die Anzahl vakanter Stellen in den nächsten Jahren.
Das wurde in den Medien breit aufgenommen: Ist die sich ausbreitende Teilzeitarbeit Treiber des Fachkräftemangels? Und welchen Einfluss haben Zuwanderung, Steuersysteme und Kitas? Darüber stritten sich Ökonomen, Journalisten und Politiker teils heftig.
Für den «Nebelspalter» Grund genug, um mit dem renommierten Wirtschaftswissenschaftler Reiner Eichenberger über Ursachen und Lösungen der herrschenden Arbeitnehmerknappheit zu diskutieren. Das Interview erscheint in zwei Teilen.
Herr Eichenberger, in der Schweiz herrscht Fachkräftemangel. Woran liegt's?
Reiner Eichenberger: Es gäbe eine einfache Lösung, um den Fachkräftemangel zu beseitigen: Die Arbeitgeber müssten die Löhne erhöhen. Das wollen Sie aber nicht.
Warum wehren sich die Arbeitgeber dagegen?
Viele Arbeitgeber behaupten, dass sie nicht in der Lage seien, höhere Löhne zu bezahlen. Doch das stimmt zumeist nicht. Sie suchen ja dringend Leute zu den herrschenden Löhnen, weil sie so mehr Gewinne machen können. Sie hätten also das Geld, um die Löhne zu erhöhen. Sie wollen es nur nicht. Führende Köpfe auf Seiten der Arbeitgeber und der Politik schreien oft zurecht nach dem freien Markt. Bei sich wollen sie ihn aber nicht spielen lassen.
Das sind die Hauptaussagen von Reiner Eichenberger:
- Die Arbeitgeber müssten höhere Löhne zahlen, um den Fachkräftemangel zu beseitigen. Sie wollen es aber nicht.
- Das Steuersystem bestraft zusätzliche Arbeit hart und verzerrt den Arbeitsmarkt massiv. Der Einfluss der Steuern hat zugenommen.
- Ein weit verbreiteter Irrglaube ist, dass sich die Zuwanderung reduziert, wenn die Schweizer mehr arbeiten.
Was ist mit den Firmen, die es sich tatsächlich nicht leisten können?
Es mag brutal klingen, ist aber voller Herz und die Quelle unseres Wohlstandes: Solche Firmen müssen Arbeitskräfte abbauen, damit diese für die produktiveren Firmen freiwerden. Es ist einfach: Weil Arbeitskräfte knapp sind, sollten sie dort arbeiten, wo sie am meisten Wertschöpfung schaffen. Leider treiben die relativ unproduktiven Firmen und manche Verbände die Politik aber seit Jahren vor sich her. Dabei sind sie selbst eine Ursache des Fachkräftemangels.
In Bezug auf den Fachkräftemangel wird auch immer wieder über die Teilzeitarbeit debattiert. In einem Tages-Anzeiger-Faktencheck werden Sie als Gegner der Teilzeitarbeit dargestellt. Sind Sie das?
Nein, absolut nicht. Ich fand den «Faktencheck» grossenteils lächerlich. Der Schuss auf unseren Beitrag ist völlig verfehlt. In der Einleitung unseres Beitrages, aus dem die Faktenchecker zitieren, schreiben wir: «Die Zunahme der Teilzeitarbeit hat mehrere Ursachen, vier davon sind positiv, aber eine Ursache ist ein massiver Minuspunkt.» Die Faktenchecker verteidigen dann mit den vier positiven Punkten die Teilzeitarbeit und stellen unseren negativen Punkt falsch dar. Toller Check.
Aber zur Sache: Nein. Natürlich sollen die Leute selbst entscheiden, wie viel sie arbeiten. Wichtig ist aber, dass sie die Konsequenzen ihrer Entscheidung selbst tragen. Das heisst, dass sie für Teilzeitarbeit auch nur Teilzeitlohn bekommen. Das ist für ein freies Leben unabdingbar. Zudem gilt: Viele Bürger mit kleinen Arbeitspensen leisten mit unentgeltlicher Arbeit einen wichtigen Beitrag zu einer funktionierenden Gesellschaft. Es ist nicht so, dass Teilzeitarbeiter per se mehr Freizeit haben. Die Hausfrauen sind das beste Beispiel dafür.
Ist die Teilzeitarbeit also gar kein Treiber des Fachkräftemangels?
Teilzeitarbeit ist dann ein Problem, wenn sie nicht wirklich freiwillig ist. Viele Arbeitnehmende würden gerne mehr arbeiten, tun es aber aufgrund der Rahmenbedingungen nicht. Das sind verschwendete Ressourcen.
Erklären Sie, warum diese Personen nicht arbeiten.
Unser Steuersystem bestraft zusätzliche Arbeit hart und verzerrt so den Arbeitsmarkt enorm. Das ist leider vielen nicht bewusst: Wenn die ÖV-Preise ansteigen, lamentieren viele, dass sie nun nicht mehr arbeiten gehen. Die viel wichtigeren Steuern interessieren die gleichen Kreise aber nicht. Leider wurde es in den letzten Jahren gar schlimmer: Der Einfluss des Steuersystems hat deutlich zugenommen.
Warum? Das Steuersystem hat sich doch kaum verändert?
Ja, ganz im Gegensatz zur Gesellschaft: Wenn ein Mann früher Karriere machen wollte, musste er Vollzeit arbeiten. Sonst wurde er schräg angeschaut. Währenddessen blieb die Frau zu Hause. Die Rollenverteilung war klar. Da hatten die Steuern kaum Einfluss auf das Arbeitsverhalten. Das ist heute anders: In den letzten Jahren drängen viele Frauen mit Teilzeitpensen auf den Arbeitsmarkt. Oftmals teilen sich beide Elternteile die Erwerbsarbeit untereinander auf. Heute muss sich kaum jemand vor sozialen Konsequenzen fürchten, wenn er ein geringes Arbeitspensum hat. Man kann nun auch mit Teilzeitarbeit Karriere machen.
Was bedeutet das?
Die Leute wägen ab, ob es sich lohnt, mehr zu arbeiten. In der Folge richten viele ihr Arbeitsangebot mehr nach den Steuern aus.
Wie gross ist der Einfluss der Steuern?
Der Einfluss der Steuern wird massiv unterschätzt: Für Entscheide über den Beschäftigungsgrad zählt die Grenzsteuerbelastung – also die Belastung von zusätzlich verdienten Franken. Und diese verzerren unseren Arbeitsmarkt massiv. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In der Stadt Zürich liegt der mittlere Lohn (Medianlohn) von Männern für eine Vollzeitstelle bei über 114‘000 Franken. Bei solchen Einkommen liegt die Grenzbelastung durch Steuern und die AHV-Beiträge bei rund 40 Prozent des Arbeitsertrags. Wenn also jemand Vollzeit statt 90 Prozent arbeitet, muss er vom zusätzlichen Arbeitsertrag 40 Prozent wieder abgeben.
Was sind die Folgen?
Im Angesicht dieser massiven Steuerlast verwundert es kaum, dass viele Teilzeitarbeit arbeiten und nicht mehr arbeiten wollen. Warum sollte ein Familienvater einen Tag mehr arbeiten, wenn er 40 Prozent seines Verdienstes an den Staat abtreten muss und während seiner Absenz eine teure Betreuung für seine Kinder organisieren muss. Ich verstehe jeden, der in dieser Situation lieber zu Hause bleibt und die Kinder aufwachsen sieht.
Vor allem Akademiker können es sich leisten, zu Hause zu bleiben. Gleichzeitig finanziert die Allgemeinheit ihre Ausbildung. Braucht es nachgelagerte Studiengebühren, damit Studierte wieder mehr arbeiten?
Nein. Ich bin gegen nachgelagerte Studiengebühren. Wir müssen uns davor hüten, in Akademikern und vor allem Akademikerinnen Steuerautomaten zu sehen. Diese Sicht verkennt, dass gut ausgebildete Menschen in ihrer arbeitsfreien Zeit mit ihrem Wissen viel zu einer funktionierenden Gesellschaft beitragen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Jede Familie und viele Nachbarn profitiert von einer Teilzeit-Medizinerin in ihren Reihen. Wenn ein Familienmitglied krank ist, kann die Ärztin eine unabhängige Zweiteinschätzung abgeben. Und sie leisten oft hochqualifizierte Care- und Freiwilligenarbeit. Das ist enorm wertvoll. Oft leisten solche gut Ausgebildete, die nur Teilzeit arbeiten, mehr für die Gesellschaft als manche Vollzeit-Berufskollegen.
«Wenn ein Familienmitglied krank ist, kann die Ärztin eine unabhängige Zweiteinschätzung abgeben» Bild: Keystone
Sind Sie also dagegen, dass die Studenten einen grösseren Anteil ihrer Studienkosten selbst berappen müssen?
Ich bin aber durchaus auch dafür, dass die Studierenden einen angemessenen Anteil, zum Beispiel 20 bis 33 Prozent, an die Studienkosten zahlen sollen. Dafür braucht es nach Fächern differenzierte höhere Studiengebühren und Studienkredite. Die Einnahmen können dann zur Verbesserung der Ausbildungsangebote – gerade auch für Nichtakademiker – und zur Senkung anderer Steuern verwendet werden.
Ist es nicht auch für die Wirtschaft wichtig, dass wir mehr arbeiten?
Nein, da ist es egal, was die Wirtschaft will. Wir leben nicht für die Wirtschaft. Sie ist dafür da, damit wir eine hohe Lebensqualität haben. Wenn die Wirtschaft mehr Arbeitskräfte will, soll sie höhere Löhne zahlen. Oder sie soll ehrlich und mutig sein und sagen: Für uns lohnt es sich nicht, höhere Löhne zu zahlen. Denn das Geld landet über die Steuern grossenteils beim Staat. Deshalb versuchen wir lieber, den Leuten den gleichen Lohn für weniger Arbeit zu zahlen. Dann bleibt der Nutzen zu 100 Prozent beim Mitarbeiter. Das ist zwar für die einzelne Firma gut, aber für die Gesellschaft schlecht, weil das Gesamtarbeitsangebot noch sinkt und so eine eigentliche Fachkräftemangel-Arbeitszeitsverkürzungs-Spirale losgetreten wird.
Welche Rolle spielt die Zuwanderung?
Ein weit verbreiteter Irrglaube ist, dass sich die Zuwanderung reduziert, wenn die Schweizer mehr arbeiten. Leider stecken auch viele Ökonomen in dieser Denkfalle. So tat mir Simon Wey, Chefökonom des Arbeitgeberverbands, richtig leid, als er kürzlich in der NZZ am Sonntag schrieb, es sei einzig der Zuwanderung zu verdanken, dass der Fachkräftemangel nicht noch gravierender sei.
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Das ist schlicht falsch. Das Gegenteil ist richtig. Ansonsten hätten wir nicht nach 15 Jahren voller Personenfreizügigkeit mit 16 Prozent Bevölkerungswachstum noch mehr Fachkräftemangel. Wir haben eine hohe Zuwanderung, weil die Schweiz in der Vergangenheit ihre Ressourcen besonders gut genutzt hat. Wenn wir nun noch mehr arbeiten und noch mehr Zuwanderer und damit Konsumenten haben, oder auch die Rahmenbedingungen nochmals verbessern, führt das nur zu noch mehr Zuwanderung von Firmen und Menschen.
Ist das ein Problem?
Ja, und wir werden es nicht los, wenn Menschen weiterhin gratis zuwandern können. Wer ein tolles Kaufhaus hat und dann alles zum Nullpreis vergibt, gewinnt viele Kunden. Aber es bringt ihm nichts und schadet sogar. Die Schweiz leidet darunter, dass die Zuwanderung keinen Preis hat.
Das Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Zürich hat festgestellt, dass vier von fünf Einwanderer keine Fachkräfte sind. Verschärft die Zuwanderung also den Arbeitskräftemangel?
Darum geht es gar nicht: Wenn alle Zuwanderer Fachkräfte wären, würden sie den Einwanderungsdruck erst recht verstärken. Das Hauptproblem der Zuwanderung ist das hohe Bevölkerungswachstum. Mit ihm wachsen die Knappheiten und so Kosten in vielen Bereichen überproportional an: Boden, Infrastruktur, Gesundheits- und Bildungswesen, Energie- und Nahrungssicherheit, Netto-Null Klimapolitik, etc. Diese werden vom Bund aber einfach ignoriert.
Am Montag erscheint der zweite Teil des Interviews mit Wirtschaftswissenschaftler Reiner Eichenberger.
Zur Person:
Der Wirtschaftswissenschaftler Reiner Eichenberger (61) ist ordentlicher Professor für Theorie der Finanz- und Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg. Seit 1998 hat er den Lehrstuhl für Finanz und Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg inne.
Zudem ist der Ökonom auch Forschungsdirektor des renommierten privaten Forschungsinstituts Crema, welches seine Hauptniederlassung in Zürich hat. Eichenberger ist verheiratet und hat mit seiner Frau zwei Töchter. Die Familie lebt am Zürichsee.