Ladislaus Löb: Ein Leben für die Erinnerung

image 2. Dezember 2021 um 08:00
Trotz viel Leid hat er ein volles Leben leben dürfen: Der Holocaust-Überlebende und Germanist Ladislaus Löb. Foto: Nebelspalter
Trotz viel Leid hat er ein volles Leben leben dürfen: Der Holocaust-Überlebende und Germanist Ladislaus Löb. Foto: Nebelspalter
Das Erzählen über den Holocaust war für Ladislaus Löb stets eine Verpflichtung. Auch im hohen Alter besuchte er Schulen und legte immer wieder Zeugnis ab, auch über die eigenen Erlebnisse, mochten sie auch ungemein leidvoll gewesen sein. Noch vor wenigen Wochen, er war schon sichtlich geschwächt, erzählte Löb vor einer Schulklasse ergreifend von seiner Kindheit, die von ständiger Angst geprägt war: Einem Kind, dem Menschlichkeit verneint wurde, aus dem einzigen Grunde, weil es jüdisch war. Einem Kind, dem seine Kindheit versagt wurde. Einem Kind, das durch viele Wunder den Holocaust überlebt hatte.
In Cluj, der Hauptstadt der rumänischen Provinz Transsilvanien, kam Löb 1933 auf die Welt. Sein Vater, Izsó Löb, war Kaufmann, seine Mutter Jolán Löb starb 1942 an Tuberkulose. In Cluj lebten damals 18’000 Juden. In seinem Elternhaus sprach man mehr ungarisch als jiddisch. Die Familie versuchte, sich zu assimilieren. Dennoch trafen gegen Ende der 1930er Jahre auch die Familie Löb die zahlreichen Gesetze, die den Juden ihre Rechte entzogen.

Eines seiner letzten Interviews: Ladislaus Löb mit eindrücklichen, auch beklemmenden Erzählungen in der Show von Markus Somm.

Löb besuchte das jüdische Gymnasium, das aber bald nach dem deutschen Einmarsch geschlossen wurde. Von da an hatte er den gelben Stern zu tragen. Anfangs Mai 1944 erhielten die Juden der Stadt den Befehl, vor ihren Wohnungen auf die Abfahrt ins Ghetto zu warten.
Löb schilderte einst die Szene, die sich in seinem Gedächtnis festgesetzt hatte: «Folgsam, wie wir seit Generationen waren, gehorchten wir der Obrigkeit, aber viele konnten nur mit Mühe auf die offenen Lastwagen klettern.» Als Ghetto diente eine stillgelegte Ziegelfabrik. Bereits nach einigen Tagen wurden die ersten Gefangenen in Güterwagen in die deutschen Vernichtungslager weitertransportiert.

«Vaada» – der Kasztner-Transport

Um am Leben zu bleiben, bestach der Vater Polizisten und Beamte und entfloh mit Ladislaus aus dem Getto von Cluj nach Budapest. Hier gelangten sie in Kontakt mit der «Vaada», einem illegalen jüdischen Komitee, das nach dem deutschen Einmarsch ungarische Juden vor dem Holocaust zu retten versuchte. Ihr Leiter Rezsö Kasztner, ein Aktivist aus Cluj, verhandelte mit Adolf Eichmann, der sich bereit erklärte, gegen ein Lösegeld von 1000 US-Dollar pro Kopf knapp 1700 Juden nach dem britisch besetzten Palästina auswandern zu lassen.
Von den 800'000 Jüdinnen und Juden wurde schliesslich eine Gruppe zusammengestellt: neben reichen Juden, die zum Lösegeld für alle beitrugen, gab es namhafte Persönlichkeiten aus allen Lebensbereichen, aber auch Witwen und Waisen, junge Pioniere oder schlicht auch Glückliche.
Unter ihnen Izsó Löb und sein Sohn Ladislaus.

Von Bergen-Belsen in die Schweiz

Am 30. Juni 1944 verliess die Gruppe Budapest, in einem Viehwagen, wie sich Ladislaus Löb in einer Niederschrift erinnerte: «Wir kämpften miteinander um Platz und Luft. Die beiden Eimer – der eine zum Trinkwasserbehälter, der andere zur Toilette bestimmt – waren zu klein. Zweimal schien es, als ob wir in den Tod fahren. Die qualvolle Reise endete am 9. Juli, nicht in Palästina, sondern in Bergen-Belsen.»
In Bergen-Belsen waren bei der Befreiung 50’000 Insassen an Hunger und Typhus gestorben. Die «Kasztner-Juden» wurden besser behandelt als die übrigen Gefangenen. Sie trugen eigene Kleider, Familienmitglieder wurden nicht voneinander getrennt. Sie waren nicht für Vernichtung bestimmt.
Im Winter 1944, nach weiteren Verhandlungen, konnte die Gruppe Bergen-Belsen verlassen und nach einer langen Fahrt durch ein zerbombtes Deutschland hielt der Zug schliesslich am Bodensee – vor sich die Schweiz. Nach ein paar Stunden, in denen die Deutschen von Kasztner eine Erhöhung des vereinbarten Lösegeldes verlangten, stieg die Gruppe in einen Schweizer Zug um und wurde wenige Minuten später von «freundlichen Schweizer Soldaten und Helferinnen vom Roten Kreuz in St. Margrethen begrüsst», wie Loeb jeweils erzählte.

Die Liebe zur deutschen Sprache

Im Realgymnasium in Zürich schloss Loeb seine Wissenslücken und entdeckte, dass er trotz seiner zutiefst traurigen Erfahrungen im Holocaust ausgerechnet von der deutschen Sprache und Kultur stark angezogen wurde. Auf dieser Zugewandtheit begründete er seine Universitätskarriere, die ihn nach England führen sollte. Oft wurde Professor Loeb gefragt, wie er als Jude und Holocaust-Überlebender ausgerechnet Professor der Germanistik werden konnte. Hierauf antwortete Loeb jeweils, dass man die Verbrechen der Nazis nicht mit Hass gegen alles Deutsche vergelten könne. Wer solches tue, laufe Gefahr, selbst auf das totalitäre Niveau des Nationalsozialismus zu sinken.
Fairness und Gerechtigkeit sollten das Leitmotiv im Schaffen von Ladislaus Loeb bleiben. So näherte er sich noch in hohem Alter der ambivalenten Figur Rezsö Kasztner an. Loeb verlangte in seinem Buch «Geschäfte mit dem Teufel» mehr Objektivität. Kasztner, der von den einen als Verräter verachtet und von vielen anderen als Held verehrt wurde, hatte dem elfjährigen Ladislaus das Leben gerettet. Für seine literarische Auseinandersetzung erhielt Loeb 2012 den Austrian Holocaust Memorial Award.
Kurz vor der Corona-Krise traf Professor Loeb zusammen mit anderen Holocaustüberlebenden Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga. Dieses Treffen bedeutete ihm sehr viel. Noch bis kurz vor seinem Tod hat Professor Loeb immer und immer wieder von der Zeit der Shoah berichtet und auf die Gefahren hingewiesen. Mit seiner Geschichte berührte er die Schülerinnen und Schüler.
Sie verstanden, was es bedeutet, wenn Menschenwürde verneint wurde.
Sie verstanden, was es bedeutet, wenn man entrechtet und gedemütigt wurde.
Sie verstanden, dass der Holocaust nachwirkt, bis heute.
«Solange ich noch da bin, muss ich alles unternehmen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt», sagte er mir einige Tage vor seinem Tod. In die nächste Generation legte er all seine Hoffnungen. Jeder, der ihm begegnen durfte, wird ihn nie vergessen. Niemals. Seine Stimme wird uns fehlen.

Zur Person

Anita Winter ist Gründerin der Gamaraal Foundation, die im Bereich der Holocausterziehungsarbeit tätig ist. Im Februar hat sie von der Bundesrepublik Deutschland das Bundesverdienstkreuz für ihr jahrzehntelanges Engagement bei der Unterstützung von Holocaust-Überlebenden erhalten. Die Gamaraal Foundation ist 2018 zusammen mit dem AfZ der ETH Zürich mit dem Dr.-Kurt-Bigler-Preis für hervorragende Projekte im Bereich der Holocaust-Education ausgezeichnet worden.
Weitere Informationen:
www.last-swiss-holocaust-survivors.ch
www.kastzner-survivor.org

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