Somms Memo

EU-Schweiz. Droht uns die Isolation? Lehren aus der Vergangenheit

image 17. März 2023 um 11:00
Die Postkarten-Schweiz ist auch eine Export-Schweiz. Seit Jahrhunderten.
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Die Fakten: 1834 schlossen sich gegen vierzig deutsche, damals souveräne Einzelstaaten zum Zollverein zusammen. Es entstand ein riesiger Binnenmarkt mitten in Europa. Warum das wichtig ist: Beim Gedanken nicht dazu zu gehören, wurde manch ein Schweizer nervös. Doch die Unternehmer lehnten einen Beitritt ab. Lehren für heute. Als Napoleon 1815 endlich nach St. Helena verfrachtet wurde, einer abgelegenen Insel im südlichen Atlantik, und der Frieden in Europa einzog – nach gut 23 Jahren Krieg –, atmeten wohl alle Schweizer auf – ausser vielleicht die Schweizer Unternehmer:
  • Zwar ist Krieg immer schlecht fürs Geschäft (es sei denn, man ist in der Rüstungsbranche tätig): Wer, der bei Verstand ist, schätzt denn die ständige Zerrüttung des Verkehrs, die Entwertung des Geldes oder das Chaos, das jeden Investor abschreckt? Im Krieg sterben auch die Kunden
  • Doch hatte Napoleon 1806 die Kontinentalsperre eingeführt. Mit diesem Embargo gegen Grossbritannien, das fast ganz Europa einschloss, wollte der selbst ernannte Kaiser der Franzosen seinen gefährlichsten Gegner wirtschaftlich in die Knie zwingen. Der gesamte Handel mit der Insel wurde unterbunden
  • Für manch einen Unternehmer – ob in der Schweiz oder sonst wo in Europa – hatte das ironischerweise auch etwas Gutes. Zwar fiel der englische Absatzmarkt weg – aber eben genauso die englische Konkurrenz. Und diese galt damals als übermächtig, zumal sich in England kurz zuvor die industrielle Revolution ereignet hatte. Dank Maschinen waren englische Produkte nun unschlagbar billig geworden und wiesen dennoch eine viel höhere Qualität auf

Kurz, ohne Kontinentalsperre wären wohl viele Maschinenfabriken oder mechanische Spinnereien in der Schweiz gar nicht entstanden – weil die überlegenen Briten sie aus dem Geschäft geworfen hätten, bevor von ihnen auch nur ein erster Jahresgewinn vorgelegt worden war. Stattdessen hatte Napoleon den Schweizer Unternehmern eine Art «Safe Space» gewährt, einen geschützten Binnenmarkt, wo sie sich entfalten konnten, ohne wirklich konkurrenzfähig sein zu müssen.
  • Wenn die schweizerischen Firmenchefs jetzt, 1815, da mit Napoleon auch das Embargo gegen Grossbritannien verschwand, etwas unruhig in die Zukunft blickten, wer konnte ihnen das verdenken?

Bestand nicht die Gefahr, dass die englischen Unternehmen die noch junge Industrie in der Schweiz einfach plattmachten?
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Napoleon Bonaparte (1769–1821), Kaiser der Franzosen.
Das Gegenteil geschah. Die Schweizer stiegen innert kürzester Zeit zu den härtesten Konkurrenten der Engländer auf – was diese selbst mit Verblüffung feststellten. Wann immer sie in Übersee oder auf dem Kontinent nun auf einen lästigen Anbieter trafen, der ihnen das Geschäft verdarb, dann stellte sich dieser bald einmal als ein Schweizer heraus. Was wiederum deren Selbstbewusstsein in einem Ausmass anschwellen liess wie selten zuvor. Schweizer Unternehmer wussten, wie Erfolg schmeckte, Schweizer Unternehmer waren überzeugt, dass die Welt ihnen zu Füssen lag. Das zeigte sich zu Beginn der 1830er Jahre. Als erneut eine Krise drohte – deren Ursachen wie 1815 politisch bedingt waren – wirtschaftspolitisch.
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Zu jener Zeit kam in Deutschland die Idee auf, einen gemeinsamen Markt zu schaffen, einen Zollverein, um alle Zölle und andere Handelshemmnisse zwischen den rund 40 deutschen Einzelstaaten zu beseitigen.
  • Jeder dieser deutschen Staaten war für sich genommen souverän – vom grossen Königreich Preussen bis zum winzigen Fürstentum Lippe. Es gab 40 Deutschlands
  • Politisch blieb man von einem Einheitsstaat noch lange weit entfernt (dieser sollte erst 1871 kommen, als das deutsche Kaiserreich gegründet wurde), doch wirtschaftlich gelang 1834 ein erster wichtiger Schritt

Nach zügigen Verhandlungen hatten sich fast alle deutschen Staaten unter Führung von Preussen 1833 auf einen Zollverein geeinigt, am 1. Januar 1834 trat er in Kraft. Damit war einer der grössten Binnenmärkte der Welt entstanden – mit damals 24 Millionen Konsumenten. Was aber hiess das für die kleine Schweiz? Immerhin war Deutschland ein Markt, auf den man nicht verzichten wollte. Nun verschwand dieser hinter Zollmauern. Panik und Ratlosigkeit. Zumal die Schweizer in Deutschland ohnehin einen schweren Stand hatten. An manchen Höfen (noch herrschten hier die Fürsten und Könige), besonders in Süddeutschland, waren wir geradezu verhasst, weil sich immer mehr liberale Flüchtlinge aus diesen Staaten in die Eidgenossenschaft retteten. 1830 waren in vielen Kantonen die Liberalen an die Macht gekommen, es wurden recht demokratische Verfassungen beschlossen, Wahlrechte ausgedehnt, progressive Universitäten ins Leben gerufen, die Volksschule neu aufgestellt: Für manch einen europäischen Liberalen galt die Schweiz jetzt als letzter Zufluchtsort in einer verdüsterten Zeit.
  • Die Schweiz war allerdings isoliert. Nervosität kam auf: Wenn man schon politisch aneckte, war es sinnvoll, sich auch wirtschaftlich auf einen Sonderweg zu begeben?
  • Die Schweiz war ein Land der Industrie, des Exportes, der Weltverflochtenheit: Sie konnte sich doch damit nur schaden. Wäre es eventuell eine Option, dem Zollverein ebenfalls beizutreten?

Um diese Frage zu prüfen, setzte der eidgenössische Vorort, die Regierung des Kantons Zürich, eine Kommission ein. Damit kein falscher Eindruck aufkommt: Wir schreiben das Jahr 1833. Das war noch die restaurierte Eidgenossenschaft, eine Kreuzung aus alt und neu, die niemanden befriedigte, seit sie 1815 im Sinne der Grossmächte entstanden war, wo Kantone sich nach wie vor wie eigene Staaten vorkamen – und so eigenbrötlerisch auch handelten. Erst 1848 wurde der moderne Bundesstaat etabliert.
  • Die Kommission umfasste sieben prominente Unternehmer – oder solche die das einmal gewesen waren. Ausschliesslich Unternehmer
  • Und vielleicht weil es Leute waren, die noch anderes zu tun hatten, arbeiteten diese auch effizient: vierzehn Tage später lieferten sie ihren Bericht ab

Sie rieten dringend von einem Beitritt ab:
  • «Bleibt die politische Selbstständigkeit und Unabhängigkeit der Schweiz bei einem Anschlusse an die preussische Zollunion durchaus ungefährdet
  • Sie verneinten diese Frage

Weil jedermann wusste, dass das autoritäre, allgemein unbeliebte Preussen hinter dem Projekt steckte, denunzierten die Schweizer Experten den Zollverein mit Vorliebe als «preussisch», wo er offiziell doch «deutsch» hiess, was aber niemanden täuschte. Unter dem Vorwand, allein die deutsche Wirtschaft fördern zu wollen, bereitete Preussen tatsächlich die deutsche Einigung vor, ein höchst politisches Unterfangen, wo preussische Interessen als deutsche verschleiert wurden. Nicht ohne Grund war Österreich, die traditionelle deutsche Führungsmacht – und ein Rivale, im entstehenden «deutschen» Binnenmarkt nicht willkommen. Preussen behielt das Heft in der Hand. Diese preussischen Vereinnahmungsversuche irritierten auch die Schweizer – und sie durchschauten die Methode, mit wirtschaftlichen Argumenten politische Ziele voranzutreiben:
  • «Die Schweiz müsste sich in Zoll- und Zolldefraudationsangelegenheiten [strafrechtliche Verfolgung von Zollbetrug] einer fremden oberherrlichen Zollgesetzgebung unterwerfen», und was im Kleinen begänne, führte zu grossen, unberechenbaren Konsequenzen, wie die Experten warnten:
  • «Nach und nach durch die Macht der Umstände und bei dem engen Verbande, welcher von jeher zwischen Staats- und Handelspolitik bestand, dürfte sie [die Schweiz] so umgarnet werden, dass sie unvermerkt aus der Stellung eines freien und unabhängigen Staates in diejenige eines gehorchenden Aggregates der deutschen Zollunion herabsinken würde.»
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Allein die Tatsache, wie man diese Kommission besetzt hatte, zeigte, wer damals in der Schweiz die Wirtschaftspolitik an erster Stelle bestimmte: Unternehmer. Das erwies sich als Vorteil. Wenn diese Experten über wirtschaftliche Krisen und die Unerbittlichkeit des Strukturwandels, aber auch über die Vorzüge des Freihandels und überseeische Märkte redeten, wussten sie, wovon sie sprachen. Es war ihre eigene Gewinn– und Verlustrechnung. Sie trugen selber die Risiken, von denen andere nur vom Hörensagen berichteten. Wahrscheinlich lag es daran, an diesem ständigen Reality Check, dem sie unterworfen waren, dass sie sich viel optimistischer äusserten als manche Politiker, Diplomaten oder Publizisten in der Schweiz, die – einmal mehr – den sicheren Untergang erwarteten. Die sieben Unternehmer waren Realisten, weil sie von der Wirklichkeit lebten. Sie hatten schon Schlimmeres durchgestanden, wie sie in ihrem Bericht deutlich machten:
  • «Wer seit einer längeren Reihe von Jahren aufmerksam den Gang des schweizerischen und des ausländischen Handels- und Fabrikwesens verfolgt hat, wird sich erinnern, wie häufig schon die nämlichen Besorgnisse eines gänzlichen Verfalles schweizerischer Industrie obwalteten»
  • «allein er wird sich dennoch zur Anerkennung der unumstösslichen Wahrheit gezwungen fühlen, dass, allgemein genommen, die Schweizer durch Nüchternheit bei ihren Unternehmungen, durch aushaltenden Fleiss und durch einsichtsvolle Tätigkeit auch die gefahrvollsten Epochen glücklich überwunden haben».

Selbstbewusst diktierten sie dem Staat, was dieser zu tun und zu lassen hatte: Freihandel auf jeden Fall, kein Anschluss an irgendeinen Zollverbund, weder an «die preussische Zollunion», also den deutschen Zollverein, noch den «Mautlinien Frankreichs», sondern handelspolitische Neutralität. Last, but not least, gab man sich überzeugt, dass nur der Freihandel den Wohlstand des Landes sicherte. Von Gegenmassnahmen, wie etwa eigenen höheren Zöllen, hielt man nichts. Stattdessen drang man auf eine Revitalisierung der eigenen Wirtschaft:
  • «Im Innern der Schweiz soll dieselbe alles dasjenige begünstigen, was die Industrie heben, alles dasjenige möglichst beseitigen, war derselben nachteilig sein kann: Das eine wie das andere jedoch, ohne sich in die innern Verhältnisse der Kaufleute und der Fabrikanten einzumischen

Es war ein Manifest des Liberalismus, das die Experten hier vorlegten, und es machte den Politikern dermassen Eindruck, dass von einem Anschluss an den Zollverein nie mehr ernsthaft die Rede sein konnte. Es kam nie dazu. Brach die schweizerische Wirtschaft nun zusammen, wie man das da und dort vorausgesagt hatte? Keinesfalls.
  • Sie erlebte im Gegenteil einen Aufschwung wie nie zuvor. Denn um den möglichen Verlust der deutschen Kunden wettzumachen, wandten sich die Schweizer Unternehmer vermehrt nach Übersee: besonders nach Amerika, das bald zum allerwichtigsten Exportmarkt aufstieg, und nach Ostasien
  • Als wenige Jahre später die Engländer die Corn Laws aufhoben und ebenfalls zum Freihandel übergingen, stand den Schweizern das ganze, so unfassbar grosse British Empire offen. Was man in Europa an Marktanteilen verloren hatte, wurde anderswo tausendfach zurückgewonnen

Zwischen den deutschen Staaten und der Schweiz herrschte nun jahrelang ein vertragsloser Zustand. Erst 1869 kam es zu einem neuen Handelsvertrag. Selbst dieser schien nicht so dringend gewesen zu sein. Offensichtlich hatten die Schweizer Unternehmer über all die Jahre in Deutschland genauso gute Geschäfte gemacht wie vorher – Zollverein hin oder her.
  • «Wesentliche Schwankungen hatten zu allen Zeiten stattgefunden und werden unter allen Umständen in Handel und Gewerbe stattfinden; sie sind durch unabwendbare Ursachen bedingt; weder Staatseinrichtungen noch Vorsichtsmassregeln sind imstande, denselben allen vorzubeugen.» Hatten die Experten, allesamt Unternehmer, in ihrem Bericht geschrieben.

Die beste Wirtschaftspolitik war keine Wirtschaftspolitik zu haben. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein nachdenkliches Wochenende Markus Somm

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