Eckwerte für Verhandlungen mit der EU

EU-Politik: Das fordern die Gewerkschaften

image 15. Mai 2023 um 03:30
Stellen Forderungen für ein Ja zu einem Rahmenabkommen: SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard (links) und SGB-Chefökonom Daniel Lampart. (Bild: Keystone)
Stellen Forderungen für ein Ja zu einem Rahmenabkommen: SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard (links) und SGB-Chefökonom Daniel Lampart. (Bild: Keystone)
Vor zwei Jahren stemmten sich die Gewerkschaften gegen das Rahmenabkommen mit der EU. Gewerkschaftspräsident Pierre-Yves Maillard störte sich am Gerichtshof der EU, der die Lohnpolitik der Schweiz überprüft hätte. Es gehe um die «Demokratie», sagte der Waadtländer SP-Nationalrat der «NZZ». «Die Leute wollen grundsätzlich mehr demokratischen Einfluss auf ihre Zukunft, nicht weniger.» Maillard forderte, dass der Bereich des Lohnschutzes vollständig aus dem Abkommen herausgenommen werde.

Gewerkschaften eingeknickt

Genau dies soll EU-Vizekommissionspräsident Maroš Šefčovič Anfang Jahr in Bern Ignazio Cassis zugesichert haben, allerdings nur mündlich. Jeder Versuch, dies schriftlich bestätigt zu bekommen, soll bis jetzt gescheitert sein. Trotzdem sind die Gewerkschaften nun offenbar bereit, der politisch-rechtlichen Anbindung der Schweiz an die EU zuzustimmen. Die Befürworter einer solchen Anbindung hoffen, dass damit die alte Koalition gegen die SVP wieder möglich würde, welche vor rund zwanzig Jahren den bilateralen Verträgen zum Durchbruch verholfen hat.
Doch die Gewerkschaften wollen für ihre Zustimmung noch Zugeständnisse von den Arbeitgebern herausholen. In Gesprächen mit dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), dem Schweizerischen Arbeitgeberverband (SAV) und dem Schweizerischen Gewerbeverband (SGV) haben Daniel Lampart, Chefökonom des Schweizerische Gewerkschaftsbundes (SGB) und Adrian Wüthrich, Präsident des zweiten Gewerkschaftsdachverbandes Travail Suisse einen fünfseitigen Forderungskatalog vorgelegt, der «Nebelspalter.ch» vorliegt.

image
Eingabe der gewerkschaften für die Gespräche bim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). (Screenshot: fi.)

Nicht-Mitglieder zum Zahlen verpflichten

Der Schweiz habe zu hohe Hürden für Gesamtarbeitsverträge und keinen nationalen Mindestlohn, schreiben die Gewerkschaften darin. Sie fordern, dass die Bedingungen für die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Gesamtarbeitsverträgen gestrichen werden. Heute müssen die Hälfte der Arbeitgeber und die Hälfte der Arbeitnehmer beim Arbeitgeberverband respektive bei der Gewerkschaft Mitglied sein, damit ein Gesamtarbeitsvertrag für eine ganze Branche, also auch für die Nicht-Mitglieder, verbindlich erklärt werden kann.
Der Bund kann heute schon Ausnahmen beschliessen und tut dies häufig. Doch das genügt dem Gewerkschaftsbund und Travail Suisse nicht. Sie fordern, dass die Bedingungen ganz wegfallen. Damit würden ihrer Meinung nach die Arbeitnehmer besser geschützt. Der eigentliche Grund ist aber: Immer weniger Arbeitnehmer sind Mitglied in einer Gewerkschaft. Wird ein Gesamtarbeitsvertrag für eine ganze Branche verbindlich, müssen auch Nicht-Mitglieder einen Beitrag an die Gewerkschaft zahlen.
Zusätzlich sollen Subventionen, Finanzhilfen oder Staatsaufträge nur noch an Firmen vergeben werden, die einen Gesamtarbeitsvertrag oder mindestens einen Normalarbeitsvertrag mit Mindestlöhnen einhalten. Eine Liberalisierung eines Marktes aufgrund eines Vertrages mit der EU, zum Beispiel des Strommarktes, wäre nur noch möglich, wenn dort ein Gesamtarbeitsvertrag abgeschlossen würde.

Schweizweite GAV-Pflicht

Faktisch würde so die heute freiwillige Sozialpartnerschaft mit einer schweizweiten Pflicht zu Gesamtarbeitsverträgen und Zwangsmitgliedschaft bei den Gewerkschaften ersetzt. SGB und Travail Suisse wären ihr Mitgliederproblem los, weil die Arbeitnehmer zur Finanzierung der Gewerkschaftsarbeit verpflichtet würden. Sie müssten die Arbeitnehmer nicht mehr einzeln von ihren Leistungen überzeugen. Auch bei den Arbeitgebern würde faktisch eine Pflichtmitgliedschaft eingeführt. Immerhin: Im Papier fordern SGB und Travail Suisse, dass die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge von den Steuern abgezogen werden können.
Klar ist für die Gewerkschaften, dass diese Gesamtarbeitsverträge alle einen Mindestlohn enthalten. Heute seien die Hälfte der Arbeitnehmer nicht durch Gesamtarbeitsverträge geschützt, schreiben sie im Papier. Die EU verlangt Massnahmen, wenn die Abdeckung tiefer als 80 Prozent beträgt. Mindestlöhne sorgen besonders in Tieflohnbranchen zu höheren Einkommen für Arbeitnehmer, erhöhen jedoch die Hürden für den Einstieg in den Arbeitsmarkt, vor allem für Stellensuchende mit geringen Qualifikationen. Arbeitgeber in Branchen mit hohen Mindestlöhnen schaffen weniger Stellen und es lohnt sich, Arbeiten durch Maschinen oder Computer ausführen zu lassen.

Schärfere Sanktionen gegen Firmen

Gleichzeitig fordern die Gewerkschaften schärfere Kontrollen und einen Ausbau des Meldeverfahrens. Sie wollen mehr Daten über die Arbeitnehmer erfassen. Wenn ein Arbeitgeber nicht mit der Gewerkschaft zusammenarbeitet, wollen sie die Firma für mehrere Tage stilllegen können. Statt einen Streik mit den betroffenen Arbeitnehmern zu organisieren, könnte ihn die Gewerkschaft einfach anordnen – selbst gegen den Willen der Angestellten. Die Sanktionen gegen Arbeitgeber sollen ebenfalls verschärft werden. Neue «präventive Massnahmen», vor allem im Bausektor, würden neuen administrativen Aufwand und hohe Kosten verursachen. Selbständige müssten nachweisen, dass sie selbständig sind, sonst würden sie als Arbeitnehmer gelten.
Die Forderungen würden das Ende des liberalen Arbeitsmarktes bedeuten. Was meinen die Wirtschaftsverbände dazu? Beim Gewerbeverband will man zu laufenden Gesprächen keine Auskunft geben und verweist auf die Position zum Rahmenabkommen. Dort hat sich der Verband gegen jeden Ausbau der flankierenden Massnahmen und gegen die jetzt schriftlich vorliegenden Forderungen der Gewerkschaften ausgesprochen (Link zum PDF). «Die flankierenden Massnahmen FlaM sind auf heutigem Schutzniveau weiterzuführen, d.h. ohne ihren Abbau oder Ausbau und ohne eine GAV-Pflicht oder Mindestlöhne.»

Arbeitgeberverband gegen Ausbau

Roland Müller, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, gehen die Forderungen der Gewerkschaften zu weit. «Ein Ausbau der flankierenden Massnahmen, wie zum Beispiel die Senkung der Quoren für die Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Gesamtarbeitsverträgen lehnen die Arbeitgeber ab.» Der Verband teile die Meinung des Bundesrates, der Kantone und Sozialpartner, dass das aktuelle Lohnschutzniveau in der Schweiz gehalten werden soll. Sollte nun die Schweiz im Rahmen künftiger Verhandlungen mit der EU einzelne Massnahmen anpassen müssen (z.B. Reduktion der Voranmeldefrist von ausländischen Unternehmen von 8 auf 5 oder 4 Tage), seien die Arbeitgeber bereit, in diesem Bereich Ausgleichsmassnahmen zu suchen, um das Schutzniveau halten zu können. Ein zusätzlicher Ausbau der FlaM lehnten die Arbeitgeber jedoch ab.
Am kommenden Mittwoch trifft man sich wieder mit Staatssekretärin Helene Budliger Artieda vom Seco.

#WEITERE THEMEN

image
OECD-Mindeststeuer

Christoph Schaltegger: «Eine kantonale Umsetzung wäre besser»

29.5.2023

#MEHR VON DIESEM AUTOR

image
Bern einfach

Teure Chalets, Daniele Ganser und die GLP, FDP Schaffhausen, Balthasar Glättli

26.5.2023