Orientierungslose Wirtschaftsverbände
Die Interessen der Wirtschaft sind die Interessen der bürgerlichen Schweiz
Ein erster Schritt: Die gemeinsame Kampagne der Wirtschaftsverbände mit dem Bauernverband. In der Bildmitte Christoph Mäder, Präsident von Economiesuisse. (Bild: Keystone)
«Kompass verloren», «zu detailversessen», oder schlicht «unzuverlässig und überzahlt» – die Verbände der Wirtschaft haben keinen guten Stand bei vielen Parlamentariern. Das hat nicht nur mit einzelnen Personen in diesen Organisationen zu tun, sondern vor allem mit dem fehlenden Verständnis ihrer Aufgabe. Vor lauter Abwehrkampf fehlt die grundlegende Orientierung.
Verbände vertreten die Interessen ihrer Mitglieder. Das sind tatsächlich oftmals gesetzgeberische Details: Ein Artikel in einer Verordnung, eine Bestimmung in einem Gesetz oder ein Vorstoss im Nationalrat, der entweder bekämpft oder dem zum Durchbruch verholfen werden soll.
Doch viele Organisationen sehen vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr, nämlich was den Standort Schweiz grundsätzlich attraktiv und wertvoll macht. Bevor sich Wirtschaftsverbände in die Vertretung ihrer Partikularinteressen stürzen, sollten sie sich die folgenden drei Überlegungen machen:
Erstens: Auf die langfristigen Interessen kommt es an
Es gibt gemäss Henry Hazlitt eine einzige Lektion in Wirtschaftspolitik, die man kennen und anwenden muss: politsche Ideen sind auf ihre langfristigen Auswirkungen auf die Allgemeinheit hin zu prüfen, nicht bloss auf die kurzfristigen Folgen für die direkt Betroffenen.
Die meisten Wirtschaftsverbände nehmen für sich wohl in Anspruch, genau das bereits zu tun. Die Realität ist in grossen Teilen eine andere: Partikularinteressen stehen insbesondere Branchenverbänden immer näher als die ordnungspolitischen Grundsätze, auf denen die Schweiz als Ganzes aufbaut.
Dafür könnte die Regulierungsflut im Finanzbereich als Beispiel dienen, oder die Vorschriften im Gesundheitsbereich. Doch ausgerechnet die EU-Politik der Verbände der vergangenen Jahre lässt daran zweifeln, dass die Wirtschaft mehr als ihre kurzfristigen Interessen vertritt. Allen voran der Dachverband Economiesuisse haben in den letzten zehn Jahren die politisch-rechtliche Anbindung an die EU mit einem Rahmenabkommen befürwortet.
Wirkungslose Angstmacherei
Das wird jeweils mit der Bedeutung des EU-Binnenmarktes als Absatzmarkt begründet. Das ist nicht falsch, greift aber zu kurz. Die Wirtschaftsverbände haben den Nutzen einer solchen Angleichung an die EU herausgestellt und die negativen Folgen, insbesondere die völkerrechtliche Verpflichtung zur Übernahme von EU-Recht und eine Streitbeilegung mit dem Gericht der EU, vollkommen ignoriert. Sie haben behauptet, der Marktzugang stehe auf dem Spiel. Dabei geht es eigentlich um die gegenseitige Anerkennung von Normen. Deren Wegfall würde für Schweizer Exporteure zusätzlichem Aufwand bedeuten, aber nicht den Verlust Kundschaft im Binnenmarkt der EU. Selbst ein Wirtschaftsverband müsste ein differenzierteres Bild der Vor- und Nachteile erarbeiten.
Langfristig und für die Allgemeinheit wiegt der politische Preis einer solchen Anbindung weit schwerer als die unmittelbaren wirtschaftlichen Vorteile für die Exportwirtschaft. Denn die politische Anbindung an die EU bedeutet auch eine Angleichung an die Standortfaktoren der EU. Und das bedeutet eine Verschlechterung der Rahmenbedingungen in der Schweiz für die gesamte Wirtschaft. Die Kosten der EU-Regulierung sind horrend. Allein jene für die Medtechbranche kostet gemäss Bundesrat 625 Millionen Franken pro Jahr. Die Angleichung der Regulierung führt so zu einem Verlust der Standortvorteile der Schweiz.
Ausblenden von Problemen
Das gilt selbst für die Personenfreizügigkeit. Natürlich: Die Wirtschaft ist auf den Zustrom von Arbeitskräften angewiesen. Und der liberale Arbeitsmarkt ist ausserordentlich erfolgreich bei der Integration der ausländischen Arbeitskräfte. Aber die Personenfreizügigkeit steht auf der Kippe, wenn deren Verteidiger so tun, als gäbe es dabei keine Probleme oder keine Kosten bei der Infrastruktur, in der Gesundheitspolitik oder den Schulen.
Es wäre ganz einfach: Die langfristigen Interessen der Wirtschaft sind auch die langfristigen Interessen der bürgerlichen Schweiz: Ein attraktiver Standort, liberale Wirtschaftspolitik, Weltoffenheit, Leistungsprinzip, tiefe Steuern für Unternehmen und ihre Mitarbeiter und Institutionen, die dies absichern: das Zweikammersystem, der Föderalismus mit kantonalem Wettbewerb und die direkte Demokratie.
Weltoffen statt europhil
Doch statt über konkrete liberale Lösungen für anstehende Probleme nachzudenken und die Standortvorteile der Schweiz zu verteidigen oder sogar auszubauen, finanziert die Wirtschaft lieber die plumpe Propaganda von Avenir Suisse und Economiesuisse für eine politisch-rechtliche Anbindung an die EU. Die Kampagnen sind so falsch wie provinziell: Die Perspektiven der Schweizer Wirtschaft sind global, statt bloss europäisch. Weltoffen statt europhil, das muss die Haltung der Wirtschaft sein. Lieber die Zuwanderung steuern und dafür die besten Talente der Welt anziehen, als im Stau stehen oder im überfüllten Spital auf eine Untersuchung warten.
Zweitens: Die Gegner werden die Wirtschaftsverbände nie mögen
Was bedeutet die Ausrichtung auf die langfristigen Interessen der Wirtschaft und der bürgerlichen Schweiz im Verbandsalltag? Die grosse Achillesferse bei der Verbandsarbeit ist das Unvermögen, Kritik auszuhalten. Noch schlimmer ist nur der Wunsch, geliebt zu werden. SP, Grüne und grosse Teile der Grünliberalen und der Mitte werden die Wirtschaft und ihre Verbände nie lieben.
Das Gleiche gilt für die Medien: Man mag in den Redaktionsstuben Wirtschaftsverbände nicht und wird sie nie mögen. Den allermeisten Journalisten fehlt das Verständnis für volkswirtschaftliche Zusammenhänge und damit das Bewusstsein, wie sie auf den Standort Schweiz generell und insbesondere auf erfolgreiche Unternehmen angewiesen sind.
Maximal naive Kampagnen
Und auch links-grüne NGOs wie Greenpeace oder Public Eye gilt: Sie werden Wirtschaftsverbände und ihre Vertreter nie mögen. Anbiederung ist zwecklos. Das Programm «Wirtschaft. Wir alle» von Economiesuisse ist maximal naiv. Man will dabei mit links-grünen NGOs zusammenarbeiten, ja selber eine «neutrale Diskussions- und Kollaborationsplattform» werden. Auf der Strecke bleiben die eigentlichen Interessen.
Wenn die Wirtschaft ihre eigenen Positionen aufgibt, um mit linken Parteien, linken Medien oder linken NGOs zusammenzuarbeiten, dann werden sie zu den «nützlichen Idioten», wie sie Lenin genannt hat.
Drittens: Allianzen auf gemeinsamem Fundament
Was also tun? Wirtschaftsverbände müssen möglichst breite Allianzen erarbeiten. Wer Interessen vertritt, muss mit allen politisch relevanten Kräften in Kontakt stehen, auch dem politischen Gegner seine Argumente darlegen – nur schon, um ihm den nötigen Respekt abzuringen.
Aber politische Allianzen machen nur mit Parteien, mit Medien oder mit Organisationen Sinn, die das gleiche Grundverständnis haben, was gut ist für unser Land im Allgemeinen und was gut ist für die Unternehmen:
- freiheitliche, kapitalistische Wirtschaftsordnung
- Schutz des Eigentums
- Unternehmerfreundlicher Staat
- innovationsfreundliche Rahmenbedingungen
- tiefe Steuern für Unternehmen und ihre Mitarbeiter
- funktionierende Infrastruktur
- Gemeinsinn und Anstand in der Gesellschaft
Das bedeutet, dass Wirtschaftsverbände auch mit der SVP zusammen arbeiten müssen. Selbst wenn Sie dabei nicht immer gleicher Meinung sind. Jene, die «System change», und damit das Ende von Innovation und Unternehmertum wollen, die sind in einer anderen Partei. Die SVP ist wirtschaftspolitisch weit verlässlicher als die Mitte und Teile der FDP – auch was die Verteidigung der Erfolgsfaktoren für den Standort angeht. Die seit einem Jahr laufende Dachkampagne der Wirtschaftsverbände und des Bauernverbandes geht in die richtige Richtung – weshalb links-grün dagegen Sturm läuft.
Aus der Plakatkampagne müsste eine tragbare Interessenallianz werden, welche Parteien einschliesst. Heute dominieren bei den Wirtschaftsverbänden Berührungsängste besonders gegenüber der grössten Partei im Bundeshaus . Die Folgen sind katastrophal: Die liberale, bürgerliche Schweiz lässt sich viel zu oft auseinanderdividieren. Der Erfolg der 16%-Partei SP in der Bundespolitik ist nur erklärbar mit der Uneinigkeit der Bürgerlichen.
Grundbedingungen für den Erfolg der Schweiz
Die langfristigen Interessen der bürgerlichen Schweiz, das Aushalten von Kritik, der Verzicht auf Anbiederung und tragbare Allianzen mit allen Kräften, welche das gleiche Grundverständnis haben: Das sind die Grundbedingungen für erfolgreiche Interessenvertretung der Wirtschaft.
Es ist banal: Die Schweiz braucht die Wirtschaft, und die Wirtschaft braucht ein freiheitliches Land als Unternehmensstandort.