Somms Memo

Die Badenfahrt, ein wunderbares Integrationsprogramm. Zur Geschichte eines grossen Festes

image 18. August 2023 um 10:02
Die Badenfahrt. 20 000 Einheimische, 1 Million Besucher. (Bild: Keystone)
Die Badenfahrt. 20 000 Einheimische, 1 Million Besucher. (Bild: Keystone)
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Die Fakten: Heute beginnt in Baden die Badenfahrt, ein zehntägiges Volksfest. Eine Million Besucher werden erwartet. Warum das wichtig ist: Es ist nicht wichtig, sondern ein Vergnügen. Die Badenfahrt belegt, dass Feste wirksamer sind als alle staatlichen Integrationsprogramme. Die erste Badenfahrt fand 1923 statt. Sie stellte einen Triumph der schweizerischen Zivilgesellschaft dar:
  • Keine Behörde organisierte den Anlass
  • sondern die «Gesellschaft der Biedermeier», ein bürgerlicher Lesezirkel, wo man sich sonst über Bücher unterhielt
  • Der Staat trug so gut wie nichts bei – weder finanziell noch logistisch. OK, die Stadtpolizisten arbeiteten etwas länger

So ist es – im Wesentlichen – bis heute geblieben. Wenn die Badenfahrt, die ich seit meiner Kindheit kenne, etwas auszeichnet, dann die erstaunliche Leidenschaft, die die Badener jedes Mal dafür aufbringen:
  • Ohne jede Bezahlung setzen sie Stunden, ja Wochen ihrer Freizeit ein, um das Fest vorzubereiten. Selbstausbeutung als Lustprinzip: Es wird gekocht, gehämmert, geprobt, geschleppt, geschuftet und gebohrt, als gäbe es nichts Schöneres
  • Dabei entstehen unter anderem Festbeizen, die Festbeizen zu nennen, eigentlich grotesk ist: Vielmehr handelt es sich um architektonische Monumente der Festkultur, wie sie sonst in der Schweiz wohl nirgendwo bloss für ein Fest aufgestellt werden
  • Sie sind sorgfältiger und aufwendiger gebaut als manch eine Villa in Afrika

Dass diese Tradition 1923 erfunden wurde, war kein Zufall. Nach dem Ersten Weltkrieg (1914-1918), einem der grauenhaftesten Kriege der Weltgeschichte, lag den Organisatoren viel daran, den schweren Zeiten etwas entgegenzusetzen – zumal auch die Nachkriegszeit keineswegs eine fröhliche war, selbst in der Schweiz nicht:
  • 1918 hatte der Generalstreik der Arbeiterbewegung das Land zerrissen, jahrelang sollte diese Krise das Verhältnis zwischen Bürgerlichen und der Linken noch vergiften
  • Ebenso war eine brutale Wirtschaftskrise hereingebrochen: eine Arbeitslosigkeit, wie man sie noch nie erlebt hatte, und eine hohe Inflation liessen die Menschen verarmen. Man fürchtete um die Zukunft. Die frühen 1920er Jahre zählen zu den wirtschaftlich härtesten Zeiten der schweizerischen Geschichte

Vor allem Baden war schwer getroffen: Die BBC, die mit Abstand grösste Firma, stand vor dem Bankrott. Gleichzeitig – davon wusste inzwischen jeder in der Stadt – lag ihr Chef und Gründer Walter Boveri seit Monaten nach einem Unfall unheilbar krank im Bett; 1924 sollte er sterben. Der zweite Gründer, Charles Brown, war schon vor dem Krieg im Streitaus der Firma ausgeschieden. Die BBC schien verdammt. Wäre die BBC damals untergegangen: Baden hätte sich wohl kaum je davon erholt. Dazu ein paar Zahlen:
  • Gegen 65 Prozent der Erwerbstätigen der Region Baden arbeiteten zu jener Zeit bei der BBC, insgesamt beschäftigte die BBC 6000 Leute in Baden (1920). Bis 1970 sollte diese Zahl auf 16 000 ansteigen: Die BBC bot mehr Arbeitsplätze, als die Stadt Einwohner hatte

Rund zehn Prozent der gesamten Steuereinnahmen Badens kamen Anfang der 1920er Jahre von der BBC, berücksichtigt man überdies die Motor-Columbus, ein Ingenieurunternehmen, das eng mit der BBC verbunden war, dann kommt man auf fast 20 Prozent

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Wenn die Gesellschaft der Biedermeier also ein Fest feiern wollte, dann war das verständlich – und mutig zugleich. Natürlich ging es nicht nur um den Frieden, auch wenn man das Fest damit begründete:
  • Motto war der «Friedenskongress von Baden», den man 1714 in der Stadt durchgeführt hatte, um den Spanischen Erbfolgekrieg zu beenden
  • Ziel war es auch, die vielen neuen «Badener» zu integrieren, die wegen der BBC in den letzten Jahren zugezogen waren

Zwar redete niemand gerne offen davon, weil alle in der einen oder anderen Weise von ihr abhängig waren: Aber die BBC war nicht nur beliebt. Im Gegenteil, die Firma, 1891 von zwei Ausländern gegründet, war wie ein UFO in der Stadt gelandet – und hatte dabei alles verändert. Kein Stein war auf dem andern geblieben. Tatsächlich handelte es sich um eine Umwälzung, wie sie in jenen Jahren kaum eine andere Schweizer Stadt erfahren hatte:
  • Das gesamte Management der Firma stammte aus dem Ausland oder aus anderen Kantonen: Kein Aargauer sass auf einer führenden Position bei der BBC, geschweige denn ein Badener
  • Es waren Tausende von Fremden zugezogen: Deutsche, Engländer, Franzosen, Italiener, Holländer oder (noch schlimmer): Zürcher, St. Galler, Berner und viele Welsche
  • Und vor allem: Protestanten. War Baden jahrhundertelang eine Hochburg der Katholiken gewesen, wo man ein paar Reformierte geduldet hatte, weil es nicht anders ging, hatte sich die Stadt nun innert kurzer Zeit zu einer paritätischen Gemeinde verwandelt: Es fehlte wenig, und die Protestanten stellten die Mehrheit

Wenn die Aargauer eine Stelle besetzten (und es waren viele zu besetzen), dann als Arbeiter oder Buchhalter, als Schlosser oder Handlanger.

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An der ersten Badenfahrt bauten die BBCisten, wie man sie in der Stadt in einer Mischung aus Bewunderung und Abneigung nannte, auch eine Festbeiz: «Die Elektrischen» hiess sie – und bald wurde auch diese Festbeiz zur Tradition. An jeder Badenfahrt war die BBC vertreten, später auch die ABB, wie die Firma seit der Fusion mit der schwedischen ASEA sich bezeichnete. «Die können ja auch festen», stellten die Badener anerkennend fest, Katholiken und Hoteliers eines Kurorts, die früher dafür bekannt waren, dass sie mehr Feste feierten, als im Kalender standen. Die BBC war endgültig angekommen.  Das erste Wochenende der Badenfahrt von 1923 erwies sich übrigens als Desaster, wie die NZZ schrieb: «Stück um Stück des Nachmittagsprogramms ertrank in grausiger Regenflut, die schliesslich auch die Ausdauerndsten unter Dach und Fach trieb – durch eine Parade von Regenschirmen zog der zusammengeschmolzene Rest des Zuges zum Kurhaus».  Das zweite Wochenende dagegen gelang, – so gut, dass die Badener seit hundert Jahren nicht mehr von ihrer Badenfahrt abgekommen sind. Ich wünsche Ihnen, ob in Baden oder sonstwo lebend, eine schöne Badenfahrt Markus Somm Wer es genauer wissen will:
Markus Somm, Elektropolis an der Limmat Baden und die BBC, 1870 bis 1925. Die Beschreibung einer Transformation. Stämpfli Bern 2019.

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