Somms Memo

Alain Berset und der «Kriegsrausch» im Westen. Hat er noch alle Tassen im Schrank oder ist er bereits zurückgetreten?

image 14. März 2023 um 11:00
Alain Berset, Bundespräsident des Jahres 2023.
Alain Berset, Bundespräsident des Jahres 2023.
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Die Fakten: Alain Berset (SP) will mit Putin verhandeln, Cédric Wermuth (SP) keinesfalls. Die SP distanziert sich von der SP. Warum das wichtig ist: Berset redet, als wäre er in die SVP eingetreten: Neutralität als Orthodoxie, Tadel für den Westen (im «Kriegsrausch»), kein böses Wort über Putin. In einem Interview mit der NZZ am Sonntag hat Alain Berset Freund und Feind verstört. Der Bundespräsident sagte Dinge, die man von einem Sozialdemokraten nicht erwartet:
  • «Das aktuelle Klima erinnert an das Klima zu Beginn des Ersten Weltkriegs. (…) Ich spüre auch heute diesen Kriegsrausch in gewissen Kreisen» – wobei man wusste, dass er damit den Westen meinte. (Die Journalisten hatten ihn auf ein Gespräch mit der welschen Zeitung Le Temps angesprochen, wo er westliche Pazifisten kritisiert hatte, die der Ukraine militärisch helfen wollen)
  • «Es wird dereinst Verhandlungen mit Russland geben müssen. Je früher, desto besser
  • «Die Neutralität ist schon seit langer Zeit Teil unserer Aussenpolitik.» Sie «muss einen harten Kern bewahren! Das ist unsere Verpflichtung gegenüber dem Rest der Welt.»

Auf den ersten Blick ist das alles nicht ganz falsch – und für einen Sozialdemokraten auch durchaus mutig, insbesondere was die Neutralität anbelangt, die für die meisten Linken seit Jahren eher ein Störsender war, wenn es darum ging, die Beziehungen zur EU harmonischer zu gestalten. Man hörte von Sozialdemokraten selten, dass die Neutralität zur DNA der Schweiz zählt. Wenn jemand als hoffnungslos von gestern galt, dann der arme Mensch, der das noch glaubte. Achtung Sonderfall! Igitt.
Neutralität war bei der Linken etwa so beliebt wie ein frisches Atomkraftwerk. Berset ist da anderer Meinung. Dafür verdient er meine Anerkennung. Er hat recht. Und doch bediente Berset einige Codes, die derzeit in jenen Kreisen grassieren, die partout alle Fehler beim Westen sehen, wenn sie über den Ukraine-Krieg nachdenken, – und solche kaum beim offensichtlichen Aggressor ausmachen, dem russischen Kriegsherrn Wladimir Putin.
  • Gewiss, sie sagen durchaus, es handle sich um einen «brutalen Angriff» von Russland, wie Berset das auch tut – aber sie sagen es meistens so wie ein Schüler ein Gedicht aufsagt, das er auswendig lernen musste, dessen Inhalt ihn aber nicht kümmert. Hauptsache, er kann es auswendig
  • Dabei vermeiden sie es vorsichtig, Putin, den mutmasslichen Kriegsverbrecher, beim Namen zu nennen. Sie schonen ihn, als wollten sie es nicht mit ihm verscherzen – auch Berset scheut den Namen wie der Teufel das Weihwasser

OK, Berset ist Bundespräsident eines neutralen Staates. Ausländische Staatsoberhäupter als «Kriegstreiber» oder «Diktatoren» zu bezeichnen, steht wohl in keinem diplomatischen Vademekum für angehende Bundespräsidenten.
  • Warum muss Berset dann aber den Westen beleidigen – und damit (wenn man ihn ganz genau beim Wort nimmt) gar Politiker, die im Westen für die Unterstützung der Ukraine eintreten – mit Panzern, Granaten, Raketen und Munition?
  • Gibt es Kriegsrausch denn nur im Westen?
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Angesichts der Tatsache, dass am 24. Februar 2022 sich nur eine Person im Kriegsrausch befand – nämlich Wladimir Putin –, ist das doch eine groteske, ja bösartige Behauptung von Berset.
  • Oder hätte Berset den Belgiern, die sich im Ersten Weltkrieg gegen den völkerrechtswidrigen Überfall der Deutschen wehrten, und den Briten, die ihnen zu Hilfe eilten, auch «Kriegsrausch» vorgeworfen?

Wäre ich Joe Biden, Olaf Scholz oder Rishi Sunak, würde ich jetzt den schweizerischen Botschafter zitieren und mich danach erkundigen, wie das der Bundespräsident der Schweizerischen Eidgenossenschaft denn gemeint habe.
  • Spinnt er? Oder tut er nur so?

Als Cédric Wermuth, der Präsident der Partei, der auch Berset bisher angehört hat (SP), am Sonntag dessen Wortmeldungen las, so stelle ich mir das vor, war er etwas überrascht:
  • Vielleicht verschüttete er den Kaffee – oder verschluckte sich beim Essen eines veganen Gipfeli

Jedenfalls erlebten wir am Montag das seltene Spektakel, dass ein SP-Präsident sich öffentlich von einem seiner Bundesräte distanzierte. Wenn Helmut Hubacher (ein Vorgänger von Wermuth) das seinerzeit tat – wie im Fall von Pierre Aubert zum Beispiel, führte das den baldigen Rücktritt herbei – von Pierre Aubert.
  • Wahrscheinlich ist Wermuth kein Hubacher – und Berset kein Aubert.
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Und doch muss ich zugeben, dass ich mich zum ersten Mal in meinem Leben auf der Seite von Cédric Wermuth wiederfand. In einem Interview mit der NZZ am Montag sagte er:
  • «Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine kann ich der Nato wenig vorwerfen
  • «Ich teile den Wunsch von Alain Berset nach einem Ende des Blutvergiessens, aber weder seine Analyse noch die Schlussfolgerungen. Im Moment gibt es schlicht keine Perspektive für Verhandlungen. Putin hat andere Ziele, er ist das einzige Hindernis für Frieden.»

Zwar hatte Wermuth auch seine schwachen Momente, so als er etwa die berechtigte Frage, ob die SP weiterhin die Armee abschaffen wollte, wie das in ihrem Parteiprogramm steht, als «billige Polemik» zurückwies.
  • Seit wann ist es polemisch, wenn man einen Parteipräsidenten an sein Parteiprogramm erinnert?

Als ob ihm das selber bewusst war, schaffte er diesen Punkt seines Parteiprogrammes aus dem Holozän dann auch kurzerhand ab. Auf die Frage, ob er «die Schweiz mit der Waffe in der Hand verteidigen» würde, sagte er:
  • «Es ist leicht, jetzt aus dem bequemen Stuhl im Restaurant Ja zu sagen, wenn man weiss, dass sich diese Frage so gar nicht stellen wird. Ganz ehrlich: Ja, ich glaube, es ist richtig, Demokratie und Freiheit notfalls auch mit der Waffe selbst zu verteidigen

Ohne Armee dürfte das selbst Cédric Wermuth schwerfallen. Es ist Zeit, dass er aus der GSoA austritt (wo er wohl Mitglied ist, wie ich annehme). Ich habe es auch getan – wenn auch zwanzig Jahre früher. Ich wünsche Ihnen einen wundervollen Tag Markus Somm

PS Im gestrigen Memo ist mir ein Fehler unterlaufen: Natürlich ist es keine Enteignung, wenn ein Aktionär seine Dividendenerträge zu 100 % versteuern muss, wie das eine Initiative im Kanton Genf gefordert hatte, die abgelehnt wurde – das ist keine Enteignung, sondern Unsinn. PPS Manche Leser haben mich darauf hingewiesen, dass selbst aus dem linken Basel-Stadt Erfreuliches, da Bürgerliches zu berichten sei: 85 Prozent der Basler stimmten am Sonntag einer Steuersenkung zu. Da aber selbst die SP dafür eintrat, hielt ich das Ergebnis für weniger aussagekräftig als die Resultate in den Kantonen St. Gallen, Bern und Genf.

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