Somms Memo

Zeit ist Geld: Wie die Uhren Europa reich machten. Eine Sommergeschichte

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Asterix bei den Schweizern: «Kuckuck», Vorläufer von Rolex, Patek Philippe und Omega.
Asterix bei den Schweizern: «Kuckuck», Vorläufer von Rolex, Patek Philippe und Omega.
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Die Fakten: Seit dem 13. Jahrhundert kennen die Europäer Uhren, und seither schauen sie auf die Zeit, als hinge ihr Leben davon ab. Ausserhalb des Westens verstand das niemand. Warum das wichtig ist: Wer die Zeit beherrscht, gewinnt. Anhand der Geschichte der Uhr lässt sich der Aufstieg des Westens verfolgen. Wir alle kennen die bösartige Unterstellung, die René Goscinny, der Schöpfer des Asterix, uns Schweizern macht:
  • In seinem schlecht recherchierten, aber wunderbaren Buch «Asterix bei den Schweizern» lässt er einen Genfer Hotelier auftreten, der die ganze Nacht über immer wieder aufsteht und «Kuckuck!» ruft, um seine Gäste darauf hinzuweisen, dass sie ihre Sanduhr drehen müssen – was diesen zusehends auf die Nerven geht, besonders den gotischen, sprich: den deutschen Gästen
  • So stellte unser Vorfahr sicher, dass die Uhren immer richtig gingen. Schweizer Pünktlichkeit um etwa 50 vor Christus

Schlecht recherchiert, weil die Kuckucksuhr, auf die Goscinny anspielt, bekanntlich keine Schweizer Erfindung ist, sondern aus dem Schwarzwald stammt.

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Kuckucksuhr. Wer hat’s erfunden? Nicht die Schweizer.

Bösartig: Weil ausgerechnet die Gallier, also die Franzosen, genauso eine grandiose Tradition der Pünktlichkeit und der Liebe zur Uhr aufwiesen wie die Schweizer – und sicher gäbe es heute noch berühmte französische Uhrenfirmen, hätten die französischen Könige im 16. und 17. Jahrhundert nicht alle ihre Uhrmacher, die überwiegend Hugenotten waren, also Protestanten, aus ihrem Land vertrieben. Die meisten flüchteten nach Genf, der Zitadelle des Calvinismus, und die Stadt stieg in der Folge zum Zentrum der europäischen Uhrenindustrie auf
  • Schon 1680 gab es hier mehr als 100 Meister und rund 300 Uhrenarbeiter, die jedes Jahr 5000 Uhren fertigten
  • So gut wie alle wurden exportiert. Wer etwas auf sich hielt an den (vorwiegend katholischen) Höfen Europas, kaufte sich eine Uhr aus dem protestantischen Genf. Nichts, was so klein war wie eine Taschenuhr, kostete mehr, nichts war begehrter

Einzig Londons Uhrenindustrie wies zu jener Zeit eine vergleichbare Stellung auf – und auch hier waren die meisten Uhrmacher ursprünglich als Glaubensflüchtlinge aus Frankreich eingewandert. Während Genf seinen Rang als Uhrenmetropole bis heute bewahrt hat, ist London in dieser Hinsicht abgestiegen.
  • Bei aller Kritik an Goscinny, diesem Genie des Humors, dem die trostlose Linke heute wohl «cultural appropriation», kulturelle Aneignung, vorhalten würde:
  • Natürlich lag er richtig

Tatsächlich sind die Schweizer eine der erstaunlichsten Nationen, was Pünktlichkeit anbelangt. Wenn wir im Ausland zu einem Termin nicht auf die Sekunde genau erscheinen, blickt man uns an als wären wir Ausserirdische, also keine Schweizer, und ich, der gelegentlich zu spät kommt, habe noch nie erlebt, dass dann der nette Amerikaner oder der strenge Deutsche keinen Witz auf meine Kosten gemacht hätte. Das Thema ist allerdings viel ernster, als man denkt.

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Nichts beschreibt den Aufstieg des Westens vielleicht auf eine kuriosere Art als unser Umgang mit der Zeit, genauer: mit der Uhr. Und dass die Schweizer dabei eine hervorragende Rolle gespielt haben, ist den meisten ebenso wenig geläufig.
  • Die ersten Uhren in Europa waren öffentliche Uhren, was daran lag, dass deren Herstellung sehr teuer zu stehen kam. Sie tauchten im 13. Jahrhundert auf
  • Man montierte sie auf Kirchtürmen oder Rathäusern, in Palästen oder Klöstern. Wenn auch der eine oder andere Monarch den Anstoss gegeben hatte, handelte es ich im Wesentlichen um eine Errungenschaft der Städte, genauer: des Bürgertums

Es war eine zutiefst bürgerliche Leidenschaft, die sich mit den Uhren verband, was damit zusammenhängen mochte, dass Handwerker und Kaufleute mehr ihre Zeit im Auge behalten mussten als ein König oder ein Adliger:
  • Wer sich auf Kriegen vergnügte, schaute nicht auf die Uhr, sondern kümmerte sich allein um den Sonnenaufgang, wenn es weiter ging auf dem Schlachtfeld
  • Ein Könige scherte sich ohnehin nicht um Pünktlichkeit. Er liess jene, die sich um eine Audienz bemühten, mit Absicht wartenWer zu spät kam, besass die Macht dazu, wer zur Zeit erschien, verriet sich als ein Untertan

Kaufleute dagegen waren froh, wenn der Händler, dem man etwas verkaufen wollte, pünktlich erschien, ansonsten das Geschäft womöglich gar nicht zustande kam. Ebenso verlor jeder Handwerker seine Kunden, sollte er nicht in der Lage sein, das bestellte Schwert zum vereinbarten Termin abzuliefern. Marktwirtschaft, Kapitalismus und Zeit hingen eng zusammen.
  • Deshalb tauchten öffentliche Uhren auch zuerst in Italien auf, dem reichsten und höchstentwickelten Land Europas. Hier hatte sich der frühe Kapitalismus schon im 13. Jahrhundert durchgesetzt. Die ersten Uhren installierte man in MailandParmaVenedig oder Florenz, den Hochburgen der westlichen Zivilisation
  • Kurz darauf verbreiteten sich die Uhren allerdings in ganz Westeuropa, geradezu einer «Epidemie» gleich, schrieb der berühmte Wirtschaftshistoriker Carlo M. Cipolla. Er hat ein glänzendes Buch über «Clocks and Culture» geschrieben, von dem ich viel gelernt habe

Dabei zeigt sich, dass ausgerechnet die hinterwäldlerischen Schweizer, die Goscinny so ungerecht verkannte, zu jenen zählten, die am frühesten von der italienischen Obsession mit Uhren ergriffen wurden:
  • Zürich besass ab 1366 eine öffentliche mechanische Uhr
  • Basel ab 1370
  • In Bern ist seit 1381 eine belegt
  • Es folgten 1385 Luzern, ab 1399 Yverdon, ab 1402 Vevey sowie ab 1405 Genf und Lausanne

Wenn ich mich jetzt mit einem Blick auf die Uhr vergewissere, dass mir noch 42 Minuten verbleiben, um dieses Memo fertigzubringen, dann erscheint mir das so selbstverständlich, dass ich leicht vergesse, wie merkwürdig dieses Verhalten ist.
  • Weltweit betrachtet gab es lange Zeit keine einzige Zivilisation, wo man so auf die Zeit achtete wie im Westen
  • Erst mit dem Siegeszug des Westens lernten die übrigen Kulturen den Wert der Zeit schätzen (oder sie verfluchten den Stress, den die Europäer ihnen damit vermachten)

Als im 13. Jahrhundert in Europa die Uhren aufkamen, war es nicht so, dass man auf anderen Kontinenten von Uhren nichts wusste, im Gegenteil, Uhren waren in China geradeso bekannt wie etwa in der islamischen Welt, zwei Zivilisationen, die Europa damals weitaus überlegen waren, was Wohlstand und Technologie betraf.

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Doch machten sich die Chinesen oder die Araber nicht so viel aus Uhren. Man bewunderte sie zwar als technische Kuriosa, und einige, ganz wenige reiche Leute leisteten sich eine Uhr zur Unterhaltung, um damit allenfalls ihre Gäste zu beeindrucken. Der Kaiser besass eine Uhr, der Sultan auch, aber kaum jemand sonst.  Wenn sich in Europa Uhren verbreiteten wie eine «Epidemie», dann war das in Peking, Kairo oder Bagdad nie der Fall. Man brauchte sie hier nicht, weil man der Pünktlichkeit und der Zeit keine so spezielle Bedeutung zumass.
  • Im Westen dagegen galten Zeit und der rationale Umgang damit als so heilig wie ein Gebet (das ebenso pünktlich zu verrichten war)
  • Wir sparten uns Zeit, wir verschwendeten Zeit, wir erschienen zur Zeit: Ausdrücke, die es ausserhalb des Westens kaum gab

Die Folgen erwiesen sich als phänomenal. Wer investiert, wer Zinsen nimmt und Kredite vergibt, wer Geld spart, tut es, weil er gelernt hat, mit Zeit zu handeln. Produktivität wird gesteigert, indem man in einem gewissen Zeitraum immer mehr produziert: Kurz, der westliche Kapitalismus hat sehr viel mit unserem einzigartigen Zeitmanagement zu tun, wie es nur in Europa entstanden war. Ein Zweites kommt hinzu:
  • Sich die Zeit einteilen, pünktlich zu erscheinen, ist auch Ausdruck einer weiteren Merkwürdigkeit des Westens: Dem Individualismus

Wenn ein Mensch sich selber steuert und so entfaltet, wie es ihm beliebt – ohne auf die berechenbaren, manchmal erwünschten, oft lästigen, immer einengenden Anforderungen der Familie oder der Sippe Rücksicht zu nehmen, er sich eben individualistisch verhält, dann hilft ihm die Pünktlichkeit, weil er sein Sozialleben dank koordinierter Terminvereinbarung aufrechterhalten kann:
  • Es muss, mit anderen Worten, rational organisiert werden – was nur mit einer Uhr möglich ist

In seinem immer wieder beeindruckenden Buch über den Durchbruch des Westens zeigt der amerikanische Anthropologe Joseph Henrich auf, wie sich die Einführung der Uhren im späten Mittelalter bis heute auswirkt:
  • Je kommerzieller und kapitalistischer – und damit auch individualistischer – eine Gesellschaft ist, desto mehr kommt es auf die Zeit an
  • Denn wer seine Zeit effizienter zu nutzen vermag, obsiegt gegenüber der Konkurrenz

So erstaunt es nicht, dass die Menschen nirgendwo schneller gehen als in New York und London, zwei Städten, deren Bewohner seit langem kapitalistischer und individualistischer leben als die übrige Menschheit.  Um dies zu belegen, hat Henrich eine Grafik entworfen, wo die Gehgeschwindigkeit in grossen Städten aufgeführt wird. Je individualistischer die Stadtbewohner, desto schneller bewegen sie sich auch. Ja, nicht zu spät kommen, ja nicht unnötig Zeit vergeuden.

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Dass die Zürcher dabei fast so schnell durch ihre Gassen eilen wie die New Yorker, kann uns nicht überraschen, zumal Zürich schon im 17. Jahrhundert zu den kapitalistischen Zentren Europas zählte; dass die Berner hingegen ebenso schnell unterwegs sind – das verblüfft doch einigermassen.
  • Numme nid gsprängt?

Bern besass 1381 schon eine Uhr. Das mag die Erklärung sein. Da dies mein letztes Memo vor den Sommerferien ist, möchte ich mich herzlich für Ihr Interesse bedanken und mich von Ihnen verabschieden. Natürlich nur auf Zeit. Das nächste Memo erscheint wieder am 7. August. In der Zwischenzeit wünsche ich Ihnen einen wundervollen Sommer, in dem Sie die Zeit vergessen Markus Somm

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