Wochenschau 17/2022
Corporate Switzerland wählt den bequemen Weg – ein Kränzchen für die SNB
Nein, das ist definitiv kein Ruhmesblatt für Corporate Switzerland. Die sogenannte GV-Saison ist voll in Fahrt, und es zeigt sich, dass die meisten Unternehmen trotz Ende der Pandemie auf die Durchführung von Präsenzveranstaltungen verzichten. Stattdessen führen sie wie in den beiden Vorjahren gestützt auf die Covid-Verordnung des Bundesrats virtuelle Generalversammlungen durch.
In seiner durchaus lesenswerten Zwischenbilanz zur GV-Saison hat der Unternehmensdienstleister Swipra Services registriert, dass bisher fast 90 Prozent der im Swiss Market Index (SMI) vertretenen Unternehmen ihre GV ohne Aktionäre vor Ort abgehalten haben. Virtuelle GV sind etwa gleich spannend wie lange Zoom-Sitzungen, und der Austausch mit und zwischen den Aktionären entfällt weitgehend (wenn bei einer virtuellen GV durch technische Mittel «Interaktion» ermöglicht wird, ist das zwar ist besser als nichts, aber kein vollwertiger Ersatz). Und es schadet auch überhaupt nicht, wenn Verwaltungsräte und die Mitglieder der Geschäftsleitung einmal im Jahr auf Tuchfühlung mit dem «Fussvolk» der Aktionäre gehen müssen.
Natürlich, nicht jedes GV-Votum mitunter kauziger Kleinaktionäre ist eine Offenbarung, und der zeitliche Aufwand für die Spitzenkräfte ist beträchtlich – aber das Stelldichein mit den Eigentümern ist der Höhepunkt des Unternehmensjahrs und Ausdruck gelebter Aktionärsdemokratie. Zudem relativiert sich das Argument mit dem Zeitaufwand, wenn man die Stunden addiert, die das Management in anderen Sitzungen einsetzt, um sich mit Themen zu beschäftigen, die bei Lichte besehen für den unternehmerischen Erfolg wenig relevant sind.
Man kann sich des Eindrucks nicht verwehren, dass die Unternehmen aus reiner Bequemlichkeit virtuelle GV durchführen – und möglicherweise kommt darin sogar eine gewisse Geringschätzung gegenüber dem Aktionär zum Ausdruck. «Eine GV ist kein Kuschelzoo», hält Peter V. Kunz, Professor für Wirtschaftsrecht in einem Beitrag in der «Finanz und Wirtschaft» fest. Demgegenüber erwiesen sich virtuelle GV «als billiger und nicht selten als angenehmer für die Verwaltungsräte, die nicht mehr überfallartig mit Fragen oder Kritik konfrontiert werden können».
Dass auch Unternehmen ausserhalb der SMI-Königsklasse dieses Jahr virtuelle GV durchführen, macht die Sache nicht besser. Grotesk wird es, wenn selbst Raiffeisenbanken, die traditionell auf ihre lokale Verwurzelung und Bodenhaftung besonders stolz sind, «aufgrund dieser Planungsunsicherheit» keine GV abhalten. Dass es anders geht, wenn man denn auch wirklich möchte, zeigen die Unternehmen, die es fertiggebracht haben, diesen Frühling Präsenzveranstaltungen zu organisieren.
Dazu gehört ausgerechnet die Schweizerische Nationalbank (SNB), die «aufgrund der Aufhebung der Corona-Massnahmen durch den Bund» die Generalversammlung morgen Freitag in Bern als richtigen Anlass im altehrwürdigen Rahmen durchführt, zugleich «auf die individuelle Verantwortung im Umgang mit Corona» verweist und den Aktionären Masken und Desinfektionsmittel zur Verfügung stellt. Die SNB als Notenmonopolist mit Bundesauftrag ist also flexibler als viele grosse und kleinere Schweizer Unternehmen, die im (mehr oder weniger) scharfen (internationalen) Wettbewerb bestehen müssen. Die Nationalbankaktionäre jedenfalls, deren Mitspracherechte aus institutionellen Gründen stark eingeschränkt sind, dürften die Geste der Bankleitung sehr zu schätzen wissen.
Die Generalversammlung der Nationalbank: ein Traditionsanlass (hier die GV zum 100-Jahr-Jubiläum 2007). Bild: Keystone
Wenn ein hoher Quartalsverlust auch seine guten Seiten hat
Die SNB machte am Donnerstag auch mit einem Quartalsverlust von fast 33 Milliarden Franken Schlagzeilen. Das ist ein hoher Betrag, der aber in Relation zur Bilanzsumme von über 1 Billion Franken zu setzen ist. Die SNB litt im ersten Quartal 2022 unter dem Zinsanstieg und der Aktienkurskorrektur, die mit 25 und 11 Milliarden Franken zu Buche schlugen. Dazu kamen aufgrund der Frankenaufwertung Wechselkursverluste von gut 3 Milliarden – das Gold erwies sich in einer Phase stürmischer Finanzmärkte einmal mehr als Fels in der Brandung und lieferte einen Gewinn von mehr als 4 Milliarden Franken; nicht zuletzt angesichts der Bilanzausweitung der vergangenen Jahre ist der seit langem unveränderte Goldbestand allerdings viel zu klein (weshalb das so ist und wie es dazu gekommen ist, wäre für sich allein ein abendfüllendes Thema).
Der SNB-Verlust ist natürlich nichts Erfreuliches, hat aber zwei positive Effekte. Er erinnert an die hohen Risiken, die in der gigantischen Bilanz schlummern und die in der «Wochenschau» mehrfach thematisiert wurden. Und er kühlt hoffentlich die Gemüter ab, wenn es um die Diskussion um noch höhere Ausschüttungen der SNB «für gute Zwecke» geht oder um die Debatte über einen Staatsfonds, der die Devisenanlagen «noch besser» bewirtschaften können soll.
Die Zukunft des Währungsystems zwischen Gold und Krypto
Wie wirkt sich das Einfrieren von zwei Dritteln der russischen Devisenreserven als Strafe für den Angriff auf die Ukraine auf die künftige Reservehaltung von Zentralbanken aus? Dieser Schlüsselfrage für das Weltfinanzsystem, für die Weltwährungsordnung und damit auch für die Weltwirtschaft vielleicht nicht schon von morgen, aber doch von übermorgen, widmet sich eine jüngst erschienene Studie der UBS.
Die Bank wirft einen Blick zurück und stützt sich dabei auf Zahlen des Internationalen Währungsfonds. Der Anteil des US-Dollars an den Devisenreserven weltweit ist seit 1999 von 71 auf 59 Prozent (2021) gesunken. Profiteur war aber nicht der (ebenfalls 1999 eingeführte) Euro, dessen Anteil mit 20 Prozent mehr oder weniger stabil geblieben ist. Vielmehr haben die «anderen Währungen» zugelegt, also beispielsweise australischer und kanadischer Dollar sowie der Renminbi. Wie Autor Alejo Czerwonko, Chief Investment Officer Emerging Markets Americas, schreibt, vollzieht sich der Wandel in der weltweiten Reservehaltung normalerweise im Schneckentempo, und der US-Dollar werde noch lange die wichtigste Reservewährung bleiben.
«Es wäre jedoch völlig naiv, zu erwarten, dass die Krise angesichts der fortschreitenden Instrumentalisierung des Finanzwesens keine Auswirkungen auf die Art und Weise hat, wie viele Länder darüber denken, wie sie ihre internationalen Reserven anlegen wollen.»
Alejo Czerwonko, CIO Emerging Markets Americas, UBS
Allerdings habe der Westen nun die schärfsten und umfassendsten Finanzsanktionen gegen ein einzelnes Land in der Neuzeit beschlossen. Es wäre gemäss Czerwonko naiv, davon auszugehen, dass dies keine Wirkung auf die Strategie bei der Anlage der Währungsreserven haben werde, zumal bei den Ländern mit hohen Reserven, welche die Sanktionen nicht mittragen wie China, Indien, Brasilien, Saudi Arabien usw.
UBS geht davon aus, dass die internationalen Reserven künftig noch stärker in andere Währungen und sogar Rohstoffe diversifiziert werden, im Bestreben um eine Stärkung der «geopolitischen Resilienz». Insbesondere das Gold, ein Klassiker für Währungsreserven und obendrein ohne Gegenparteirisiko, der Renminbi, die Valuta des wirtschaftlichen Schwergewichts China, und Kryptowährungen, wo das Spektrum vom libertären Bitcoin bis zu staatlichen Central Bank Digital Currencies reicht, könnten in der Reservelandschaft von übermorgen eine prominentere Rolle übernehmen, mutmasst UBS.
Kryptowährungen wie der Bitcoin sind indes mit spezifischen Risiken behaftet, die Zentralbanken und Unternehmen gleichermassen berücksichtigen sollten. Gemäss den Analysten der Ratingagentur Standard & Poor’s (S&P) halten derzeit (22. März) kotierte Unternehmen bereits mehr als 200’000 Bitcoin (mit steigender Tendenz), was 10 Milliarden US-Dollar entspricht. Darüber, ob für die Gewinnung (Mining) von Bitcoin wertvolle Energie verschwendet oder bloss überschüssiger Strom sinnvoll verwertet werde, gingen die Meinungen weit auseinander. S&P nimmt aber an, dass das Halten eines Bitcoins in einem Wallet über ein Jahr dem CO2-Äquivalent eines Retourflugs London-Dubai entspreche. Bei einer flächendeckenden Erhebung einer Klimasteuer würde sich daher auch das Halten von Bitcoins verteuern, was die Kreditqualität von Unternehmen mit grossen Bitcoin-Positionen vermindern könnte.
Eine Industrie wie jede andere auch? Kryptowährungs-Mining-Zentrum in Island, das geothermische Energie nutzt. Bild: Keystone
Löhne und Zinsen steigen – Inflation und Schuldendienst?
Dass die Inflation nach langer Absenz weltweit mit Wucht zurückgekommen ist, lässt sich in Anbetracht der von den Statistikern ermittelten Teuerungszahlen und auch der alltäglichen persönlichen Einkaufserlebnisse nicht mehr abstreiten. Die spannende Frage lautet nun, ob die Inflation gekommen ist, um hoch zu bleiben, oder ob sie sich wieder zurückbildet. UBS-Chefökonom Paul Donovan nennt drei Gründe, weshalb die Inflation im zweiten Halbjahr zurückgehen sollte.
Erstens sei der teilweise auch fiskalpolitische unterstützte Nachfrageschub 2021 für bestimmte Güter wie Gebrauchtwagen oder Unterhaltungselektronik nun ausgelaufen. Zweitens wirke der Basiseffekt jetzt umgekehrt: Künftige Messlatte für die Inflation sei nicht mehr das tiefe Preisniveau in der Pandemie, sondern das aktuell höhere. Drittens blieben die Lohnkosten – die über die Lohn-Preis-Spirale ein wichtiger Faktor dafür sein können, dass sich die Inflation festsetzt – unter Kontrolle. Donovan unterscheidet dabei zwischen Lohnwachstum und Arbeitskosten. Die Wertschöpfung der Wirtschaft in vielen Ländern liege nahe oder leicht über dem Niveau vor der Pandemie, aber die Beschäftigung habe abgenommen. «Weniger Menschen arbeiten härter, um die gleiche Menge zu produzieren.» Wenn für diese die Löhne wüchsen, nähmen die Kosten für den Faktor Arbeit insgesamt nicht zu.
Eine andere UBS-Studie legt allerdings keine Entwarnung nahe – zumindest für Euroland nicht. Es liessen sich erste Anzeichen für ein kräftiges Wachstum der Nominallöhne erkennen, insbesondere in Spanien, Österreich und den Niederlanden. Für Deutschland, das im Eurozone-Konsumentenpreisindex mit 28 Prozent gewichtet wird, erwarten die Ökonomen im zweiten Halbjahr ebenfalls einen deutlichen Anstieg, wobei dort auch die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes mitspielt.
Real und nicht nominal betrachtet befinden sich die Löhne angesichts der hohen Teuerung in der Eurozone allerdings weiterhin auf Sinkflug. Eigentlich müsste die Europäische Zentralbank (EZB), die den Auftrag hat, die Preisstabilität zu sichern, handeln und die immer noch sehr grosszügige Geldpolitik normalisieren. Die mit einer Normalisierung einhergehenden höheren Zinsen würden jedoch den Schuldendienst für Staaten und Unternehmen verteuern – und auch deshalb zögere die EZB den Kurswechsel hinaus, lautete eine derzeit weitverbreitete These.
Sie ist nicht ganz falsch, aber etwas einseitig. Selbst wenn die EZB die Zinsen erhöht und dies hochverschuldete Mitgliedstaaten und deren Banken belastet, verfügt eine gewiefte Zentralbank über andere Instrumente, um die Refinanzierung sicherzustellen, selbst wenn der Kapitalmarkt die Schuldentragfähigkeit wieder kritischer beurteilen sollte. Solange sich die EZB bezüglich der Qualität der Sicherheiten (Collateral), die sie für geldpolitische Geschäfte akzeptiert, weiterhin so geschmeidig zeigt wie in den letzten Jahren, kann eine Regierung Staatsanleihen bei Banken platzieren, und diese können damit wiederum bei der Zentralbank Liquidität beziehen. Und im Extremfall wird, wie die Erfahrung zeigt, eine versierte Zentralbank auch immer wieder gute Gründe finden, um Staatsanleihen zu kaufen, wenn sich die «Stabilität des Marktes» anderweitig nicht mehr gewährleisten lässt.
Erfolgreiche Unternehmen wegen oder mit Frauen?
Der Unternehmensdienstleister Swipra Services hat in seiner Analyse nicht nur die Form (siehe oben), sondern auch den Inhalt der Generalversammlung unter die Lupe genommen. Ein wichtiges Thema ist die Nachhaltigkeit und natürlich die Diversität. Das tönt dann im neudeutschen Corporate-Governance-Slang folgendermassen: «An der GV-Saison 2022 wurde seitens der internationalen Stimmrechtsberater angetönt, dass die Geschlechterdiversität im VR dieses Jahr konsequenter adressiert wird.»
Dass «Gender Equality», also eine ausgewogene Vertretung der Geschlechter in den Leitungsorganen, allen diene und insbesondere auch wesentlich zum Unternehmenserfolg beitrage, gilt heute als Allgemeingut. Vielleicht besteht tatsächlich eine Kausalkette, aber in umgekehrter Richtung. Unternehmen sind nicht deshalb erfolgreicher, weil sie einen höheren Frauenanteil im Management haben. Aber entsprechend qualifizierte Frauen können – weil das Angebot begrenzt und die Nachfrage gross ist (Verwaltungsräte und Vorgesetzte allgemein haben aufgrund des aktuellen Zeitgeists starke Anreize, wenn immer möglich, eine Frau einzustellen) – auswählen. Dann hätten Unternehmen einen höheren Frauenanteil, gerade weil sie erfolgreich sind. Eine steile These, zugegeben. Aber vielleicht findet sich jemand, der sie wissenschaftlich überprüfen möchte? Am besten dafür geeignet wäre selbstredend eine Frau…
Dies ist die letzte Wochenschau aus Kusters Feder. Sie fällt wirtschaftlichen Überlegungen zum Opfer, wofür man als Ökonom natürlich ein gewisses Verständnis aufbringen muss. Ich danke Ihnen, geschätzte Leserin und geschätzter Leser, für Ihr Interesse und Ihre Geduld bei der Lektüre der manchmal etwas ausführlich geratenen Beiträge.