Wochenschau 11/2022: Minischritt in den USA, Lohnwachstum, SNB-Prognose, Liquidität für Banken, russische Energie, Home-Office
Sachte Zinserhöhung in den USA
Nachdem die Zentralbanken die Leitzinsen lange bei null Prozent (oder sogar im negativen Bereich) gehalten haben und bestrebt waren, mit unkonventionellen Massnahmen wie Käufe von Staatsanleihen (quantitative Lockerung) die sogenannten monetären Bedingungen noch weiter zu lockern, schlägt das Pendel zurück. Der Inflationsschub, der sich vergangenes Jahr ankündigte, hat sich nicht, wie erhofft, als temporär erwiesen. Nun müssen die Geldpolitiker die Schraube anziehen. Besonders gross ist der Handlungsbedarf angesichts der galoppierenden Teuerung in den USA.
Der oberste Verantwortliche für die US-Geldpolitik: Fed-Chef Jerome Powell Anfang März bei einem Auftritt im Kongress. Bild: Keystone
Am Mittwoch hat die US-Notenbank Fed den Leitzins um einen Viertelprozentpunkt angehoben. Das Zielband für die Federal Funds Rate reicht damit von 0,25 bis 0,50 Prozent, was historisch betrachtet immer noch ein aussergewöhnlich tiefer Wert ist. Der Leitsatz bestimmt die Konditionen am US-Geldmarkt, und Veränderungen übertragen sich jeweils auf die ganze Zinskurve, beeinflussen also auch die Konditionen für längere Laufzeiten. Ein Mitglied des für den Entscheid verantwortlichen Federal Market Open Committee (FOMC) hätte einen Zinsschritt von einem halben Prozentpunkt bevorzugt. Zudem bekräftigte das FOMC, es werde bald damit beginnen, die aufgrund von früheren Kaufprogrammen hohen Bestände an US-Staatsanleihen und anderen Schuldverschreibungen in der Notenbankbilanz abzubauen, also einen Teil der quantitativen Lockerung rückgängig zu machen.
In ihrem Communiqué malt die Fed ein rosiges Bild der Wirtschaft: Indikatoren für den Wirtschaftsverlauf und die Beschäftigung wiesen weiter nach oben. Es würden viele Stellen geschaffen, die Arbeitslosigkeit sei deutlich zurückgegangen – die Lage am Arbeitsmarkt ist für die US-Zentralbank besonders wichtig, weil sie (anders als die meisten anderen Notenbanken) ausdrücklich damit beauftragt ist, neben der Preisstabilität auch die Vollbeschäftigung zu sichern. «Die Inflation bleibt erhöht und spiegelt damit Ungleichgewichte beim Angebot und bei der Nachfrage, die mit der Pandemie, höheren Energiepreisen und einem breiteren Preisdruck zu tun haben.» Als grösster Unsicherheitsfaktor gilt der Ukrainekonflikt.
In Europa noch keine Lohn-Preis-Spirale sichtbar
Die Geldpolitiker weltweit sind derzeit nicht zu beneiden. Gegen die aktuell hohe Inflation und die hohen Energiepreise können sie nichts ausrichten. Sie können aber die Inflationserwartungen an den Märkten und in der Bevölkerung beeinflussen, indem sie mit ihren Entscheiden zeigen, dass sie den Ernst der Lage erkannt haben und die Teuerung wieder einfangen wollen. Bleiben die Inflationserwartungen im «ungefährlichen Bereich» verankert (die Obergrenze liegt in der Regel um 2 Prozent), ist die Wahrscheinlichkeit auch kleiner, dass die gefürchtete Lohn-Preis-Spirale zu drehen beginnt.
Die Europäische Zentralbank (EZB) erhöhte zwar vergangene Woche den Leitzins nicht, bereitete aber das Terrain dafür vor und kündigte eine beschleunigte Reduktion des Volumens ihrer Anleihenkäufe an. Ihre Beurteilung der Wirtschaftslage fiel gedämpfter aus als diejenige der Fed. Aber trotz der nahen Ukrainekrise fand auch die EZB positive Elemente: Die Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie hätten sich weniger negativ ausgewirkt als bei früheren Wellen und würden nun laufend aufgehoben. Auch die Probleme bei den Lieferketten begännen sich zu lösen. Die robuste Binnennachfrage unterstütze das Wachstum. Die Arbeitsmärkte seien in einer starken Verfassung.
Noch ist von einer Lohn-Preis-Spirale in der Eurozone nichts zu sehen. Im Gegenteil: Ein von der UBS monatlich ermittelter Indikator für die Lohnabschlüsse zeigt, dass das Wachstum der Nominallöhne recht stabil ist. Aufgrund der hohen Teuerungsrate sind hingegen die Reallöhne am Schrumpfen. Die Frage wird natürlich sein, wie die Gewerkschaften auf den Kaufkraftverlust ihrer Mitglieder reagieren. Je länger der aktuelle Inflationsschub anhält, desto grösser wird die Wahrscheinlichkeit, dass sie in den Tarifverhandlungen markant höhere Forderungen stellen. Die UBS rechnet mit einer Beschleunigung des Lohnwachstums auf nominal 3 Prozent bis Ende 2023 – die Drehungen der Spirale blieben damit unter Kontrolle.
Entscheid der SNB naht – Die Sache mit der Forward Guidance
Nächsten Donnerstag wird auch die Schweizerische Nationalbank (SNB) ihren geldpolitischen Entscheid präsentieren. Mit einer Erhöhung des SNB-Leitzinses, der derzeit minus 0,75 Prozent beträgt, ist nicht zu rechnen. Auf mehr Interesse als auch schon dürften dafür die Einschätzungen zur Lage und Entwicklung der Wirtschaft stossen – und natürlich auch die Inflationsprognose für die kommenden drei Jahre. Diese dient als Hauptindikator für den geldpolitischen Entscheid und ist zugleich ein wichtiges Instrument für die Kommunikation. Die Prognose ist bedingt, das heisst, es wird unterstellt, dass sich der SNB-Leitzins über den ganzen Zeitraum nicht verändert. Damit lässt ihr Verlauf Rückschlüsse auf die künftige Geldpolitik zu, auch wenn die SNB nicht sklavisch auf zu hohe oder zu tiefe Inflationswerte reagieren muss. Spannend wird sein, wie stark die SNB die Werte in ihrer Inflationsprognose vom Dezember 2021 nach oben revidieren muss.
Die Zeiten, in denen Zentralbanken klare Angaben zum künftigen Verlauf der Leitzinsen und damit der kurzfristigen Zinssätze machen wollten und konnten, scheinen weit weg zu sein. In der Praxis wurde die sogenannte explizite Forward Guidance eingesetzt, um die Märkte davon zu überzeugen, dass auf absehbare Zeit mit tiefen kurzfristigen Zinssätzen zu rechnen ist. Vor rund zehn Jahren koppelten die US-Zentralbank und die Bank of England eine Überprüfung ihres Leitzinses gar an einen Schwellenwert bei der Arbeitslosigkeit. Aber auch die EZB machte, anders als die SNB, den Modetrend mit. Eine prinzipienbasierte Geldpolitik ist alleweil besser als eine, die eine Scheinsicherheit bezüglich der künftigen Zinsentwicklung vorgaukelt.
Ein neues Werkzeug für den Lender of last resort
Seit der Finanzkrise ist es doch schon einige Jahre her – aber diese Krise beschäftigt auch heute noch den Bundesrat. In einem Communiqué vom vergangenen Freitag gab die Landesregierung bekannt, sie habe die Eckwerte für eine staatliche Liquiditätssicherung (Public Liquidity Backstop) beschlossen. Mit diesem Instrument sollen Bund und SNB die Liquidität einer systemrelevanten Bank stärken können, wenn sich diese im Sanierungsverfahren befindet. Eine erfolgreiche Sanierung bedingt gemäss Bundesrat einen glaubwürdigen Sanierungsplan, dazu Gläubiger, die Verluste tragen können, um die Bank zu rekapitalisieren, sowie ausreichend Liquidität.
In erster Linie wird in einem solchen Fall auf die Liquidität der betroffenen Bank zurückgegriffen, die zweite «Verteidigungslinie» ist die ausserordentliche Liquiditätshilfe der SNB. Die neue staatliche Liquiditätssicherung, die als «vertrauensbildende Massnahme» bezeichnet wird, bildet nun die dritte Linie. Konkret soll die SNB im Fall der Fälle der systemrelevanten Bank ein Darlehen gewähren, das vom Bund garantiert würde. Die Finanzkrise habe gezeigt, wie bedeutend Liquidität für die Stabilität der systemrelevanten Banken sei, hält der Bundesrat fest – ohne die Schweizer Grossbank zu nennen, die 2008 mit Kapital des Bundes und Liquidität der SNB (die als Lender of last resort fungierte) gerettet werden musste. Bis Mitte 2023 wird das Eidgenössische Finanzdepartement eine Vernehmlassungsvorlage ausarbeiten.
Wenn aus Russland kein Gas und Öl mehr nach Europa flösse
Die Bonitätsspezialisten von Independent Credit View (I-CV) befassen sich erneut mit der Ukrainekrise. Diesmal aber nicht, wie noch vor Ausbruch des Kriegs, mit der Kreditqualität russischer Schuldner (Wochenschau 4/2022), sondern mit den Folgen für die europäische Energieversorgung und für die europäischen Unternehmensschuldner. Die grosse Abhängigkeit Europas vom russischen Öl und (vor allem) Gas ist heute allgemein bekannt, wobei es länderspezifisch beträchtliche Unterschiede gibt.
Im Hauptszenario (Wahrscheinlichkeit 55 Prozent) von I-CV kommt Russland seinen Lieferverpflichtungen weiter nach, und die EU-Staaten verzichten auf Importverbote. Höhere Energiepreise schwächen zwar das Wachstum und fachen die Inflation an. Die Zahlungsfähigkeit der Unternehmen leidet aber darunter nicht, weil sie dank guten Geschäftsergebnissen im Jahr 2021 engere Gewinnmargen verkraften können.
Wenn Russland den Gashahn zudreht oder die EU die Energiesanktionen (Szenario 2 und 3) der USA übernimmt, kommt es zu einer Rezession, und bestimmte Branchen müssen vom Staat unterstützt werden. «Exponiert sind vor allem europäische (Gas-)Versorger und Energiegesellschaften sowie energieintensive Branchen wie Chemie, Metallverarbeitungs-, Bau-, Verpackungs- und Transportindustrie», hält I-CV fest und nennt auch einige Unternehmen beim Namen. Es sei schwierig, die genauen Effekte zu quantifizieren, weil unternehmensspezifische Faktoren eine Rolle spielten und zudem positive Wechselwirkungen zu berücksichtigen seien. Ein Beispiel dafür ist der Schweizer Baustoffhersteller Holcim, der zwar bei der Produktion höhere Energiepreise zu gewärtigen hat, aber wegen der zusätzlichen Infrastrukturnachfrage im Dienste der Versorgungssicherheit per saldo zu den Gewinnern gehören könnte.
In Fleisch und Blut statt auf dem Schirm im Home-Office
Am Mittwochabend fand eine Veranstaltung der Swiss Financial Analysts Association (SFAA) statt, mit einer Präsentation der Managerin eines Fonds, der auf chinesische Aktien ausgerichtet ist; eine Anlageklasse, die in den letzten Monaten heftigen Schwankungen unterworfen war. Das wäre im Normalfall keine grosse Schlagzeile wert, aber es war der erste «normale» Anlass im sogenannten Club-Format seit 755 Tagen, also mit Menschen, die sich leibhaftig vor Ort treffen und sich beim Apéro austauschen. Schuld an dieser Lücke ist natürlich die Pandemie – beziehungsweise die Massnahmen, die ergriffen wurden, weil man sich davon eine eindämmende Wirkung versprach.
Eine dieser Massnahmen war die Pflicht respektive Empfehlung zum Home-Office. Allmählich kehren die Mitarbeiter vieler Unternehmen in die Büros zurück; ein Vermächtnis der Krise dürfte aber sein, dass ein höherer Anteil an Home-Office-Tätigkeit akzeptiert wird als vorher. Diese Wahlfreiheit ist ein Gewinn für die Arbeitnehmer – die Ökonomie und das Leben lehren allerdings, dass es nichts umsonst gibt. Doch oft werden die mit augenfälligen Vorteilen verbundenen Kosten erst später sichtbar. Ein Beispiel dafür ist Chinas rigide Null-Covid-Strategie, die lange Zeit von vielen auch im Westen als vorbildlich gelobt wurde. Heute wird aber immer deutlicher, wie gross der wirtschaftliche Preis ist, den China für seinen Weg bezahlt, weil es immer wieder ganze Regionen abschnüren und lahmlegen muss.