Somms Memo
Wladimir der Grosse oder Wladimir der Letzte? Mit Russland kann man nicht verhandeln.
Wladimir Putin, russischer Präsident. Von Kriegsmüdigkeit keine Spur.
Die Fakten: Russland gibt an, eine ukrainische Kaserne bombardiert und dabei 600 Soldaten getötet zu haben. Die Ukraine bestreitet das. Der Krieg geht in sein zweites Jahr.
Warum das wichtig ist: Lässt sich dieser Krieg innert nützlicher Frist beenden? Ja. Aber nur, wenn die Ukraine gewinnt. Verhandlungen bringen nichts.
Aus Anlass der orthodoxen Weihnachten, die jeweils am 6. und 7. Januar gefeiert werden, hat Russland einseitig eine Waffenruhe von 36 Stunden ausgerufen. Die Ukraine – obwohl ebenfalls zur Hälfte orthodox – hielt sich nicht daran. Wie sich bald herausstellte, mit gutem Grund, denn Russland feierte zwar, und trotzdem kämpften seine Soldaten da und dort weiter, als hätten sie den Befehl aus Moskau nie vernommen.
- Russland kam wie die alte Fasnacht, wie man in der Schweiz sagt
- Die alte Fasnacht kommt immer später, weil sie sich an den alten julianischen Kalender hält, den der römische Diktator Julius Cäsar einst eingeführt hat
- Und nach diesem julianischen Kalender richten sich auch die Orthodoxen, wenn es um Weihnachten geht – während wir im Westen seit dem 16. Jahrhundert dem gregorianischen Kalender folgen (der astronomisch auch mehr Sinn ergibt)
Als ob es ihm darum gegangen wäre, sein Versprechen, das er nicht gehalten hatte, nachträglich doch noch zu brechen, ordnete Wladimir Putin, der russische Präsident, am Sonntag eine Attacke auf eine ukrainische Kaserne an:
- Die «Erfolgsmeldung» aus Moskau lautete: 600 tote ukrainische Soldaten
- Fotos des angeblichen Präzisionsschlags zeigten allerdings, dass die Russen ihr Ziel wohl verfehlt hatten. Wenn Tote zu beklagen waren, dann sicher nicht 600
Wie verzweifelt muss Russland sein, wenn es sich gar selbst eines Massakers bezichtigt – nur, damit wir Angst bekommen? Ein Monster, das darauf besteht, ein Monster zu bleiben.
«Im Krieg ist das erste Opfer die Wahrheit», sagte der amerikanische Senator Hiram Johnson zu Beginn des Ersten Weltkriegs – ohne zu ahnen, dass selbst seine eigene Regierung in den kommenden Jahrzehnten viel Unsinn, wenn nicht Lügen verbreiten sollte, wenn es den militärischen und politischen Zielen der USA diente.
Niemand lügt mit besserem Gewissen als eine Regierung – selbst im Westen kommt das vor.
Wenn es aber ein Land gibt, das seit etwa 1917 gar nie mehr aufhören kann, Propaganda zu betreiben, ob im Krieg oder zu Friedenszeiten, dann die Sowjetunion und ihre Nachfolgerin Russland. Und wenn es einen Ort zu benennen gilt, wo diese Tradition gehegt und gepflegt wurde, als handelte es sich um die orthodoxe Liturgie, dann das KGB, der sowjetische Geheimdienst.
Hier lernte auch Putin sein Handwerk. Er arbeitete jahrelang als Agent für den KGB.
Das macht es so schwer, all jene Leute ernst zu nehmen, die immer wieder darauf drängen, den Russen Verhandlungen anzubieten. Sicher meinen sie es gut.
Angesichts der russischen Bilanz, was Wahrheit und Vertragstreue anbelangt, wirken sie etwas weltfremd, wenn nicht naiv.
- 1994 hat die Ukraine ihre Nuklearwaffen aufgegeben – im Gegenzug garantierten die USA, Grossbritannien und Russland die Souveränität und die Grenzen des Landes
- Russland scherte sich nicht darum, es besetzte zuerst die Krim (2014), dann überfiel es gar das ganze Land – unter dem Vorwand, sich von der Nato bedroht zu fühlen
Eine groteske Sorge. Hat die Nato je Russland besetzt? Putin erinnert an einen Autodieb, der bei der Polizei vorfährt und das Auto als gestohlen meldet. Könnten die Beamten nicht freundlicherweise bei der Suche behilflich sein? bittet er.
Jetzt zeigt sich Putin zu Verhandlungen bereit – nennt aber als Vorbedingung, dass alle Gebiete, welche die Russen bisher erobert haben, als «unverhandelbar» anzusehen seien.
Auf welchem Planeten raucht Herr Putin sein Gras?
Dennoch ist er natürlich schlau.
- Er weiss, dass der Westen kriegsmüde ist. So durchsichtig Putins Angebot sich auch ausnimmt, so erschöpft und dankbar ergreift der eine oder andere Politiker und Journalist im Westen jede Gelegenheit, den lästigen Krieg loszuwerden
- Putin weiss zweitens: je länger der Krieg dauert, desto eher gibt der Westen nach
- So gesehen muss er einfach zuwarten – und weiterkämpfen, koste es, was es wolle
Das Einzige, was ihm nicht hilft, ist eine Niederlage. Nur dann verhandelt er – besser: seine Nachfolger.
Ist Russland am Ende? Sicher nicht. Putin hat keinerlei Grund, aufzugeben. Ihm nützt der Krieg. Was er aber übersieht – und mit ihm seine potenziellen Nachfolger: Es dürfte sehr lange dauern, bis Russland je wieder als «normales» Land betrachtet wird – wie mir ein deutscher Diplomat kürzlich zu bedenken gab:
«Die Russen sind sich nicht bewusst, wie vollständig sie ihren Ruf auf lange Zeit ruiniert haben. Das gilt umso mehr, wenn einmal alle Kriegsverbrechen bekannt werden, die sich Russland in diesem Krieg zuschulden hat kommen lassen. Wir Deutschen wissen, wovon wir sprechen.»
Gewiss, es hat etwas Tragisches, wie Putin (70) sich darum bemühte, um jeden Preis in die Geschichte einzugehen. Wladimir der Grosse oder Wladimir der Letzte?
Wer mit dem ehemaligen KGB-Agenten Putin verhandeln will, sollte sich jedenfalls zu Herzen nehmen, was Winston Churchill, auch ein schlauer Politiker, einmal bemerkt hat:
«In der Beurteilung der Sowjets habe ich mich niemals Illusionen hingegeben. Ich wusste, dass sie kein moralisches Gesetz anerkannten und ausschliesslich auf ihre eigenen Interessen bedacht waren.»
Ich wünsche Ihnen einen glänzenden Wochenbeginn
Markus Somm