Somms Memo
Wird in Italien nun der Faschismus eingeführt? Zu einem Tabubruch
Giorgia Meloni, Postfaschistin und Wahlsiegerin in Italien.
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Die Fakten: In Italien gewinnen die Fratelli d’Italia die Wahlen, eine Partei, die auf den Faschismus zurückgeht. Giorgia Meloni, die Chefin, dürfte Ministerpräsidentin werden.
Warum das wichtig ist: Zum ersten Mal seit 1945 gelangt in Europa eine post-faschistische Partei an die Macht. Muss man sich fürchten?
Benito Mussolini herrschte von 1922 bis 1943 als Diktator in Italien. Über ihn sagte Giorgia Meloni:
«Mussolini war ein guter Politiker. Alles, was er getan hat, hat er für Italien getan. Anders als all die anderen Politiker der letzten 50 Jahre.»
Das war 1996. Die heutige Wahlsiegerin in Italien war damals 19 Jahre alt und aktiv in der Studentenorganisation der Alleanza Nazionale, einer Partei, die aus dem Movimento Sociale Italiano hervorgegangen war, einer Bewegung, die 1946 von überzeugten Faschisten gegründet worden war, in der Absicht, irgendwann in Italien den Faschismus wieder einzuführen.
Ist es nun so weit?
Tatsächlich ist der Aufstieg von Meloni und ihrer Partei, den Fratelli d’Italia, den Brüdern Italiens, spektakulär, ja historisch, sicher provokativ, wobei schon nur der Name eine Provokation darstellt.
- Wo sind die Schwestern geblieben?
Meloni macht das bewusst. Gendern, LGBTQ+, Anti-Rassismus, EU oder Anti-Trump: Auf alle Herzensangelegenheiten des linksliberalen Establishments im Westen pfeift sie – und drückt das auch so aus. Die Römerin, die in einfachen Verhältnissen aufgewachsen ist, redet mit dem mitleidlosen, proletarischen Akzent der Römer Modernisierungsverlierer
- ihre Stimme ist tief
- ihr Blick wild
- ihr politisches Talent: ganz beträchtlich
Mussolini, ein guter Politiker?
- 1935 überfiel Italien auf Anordnung des Duce das Kaiserreich Abessinien, das heutige Äthiopien, ein christliches Land mit einem friedfertigen Kaiser, ein Mitglied des Völkerbundes, ein Land, das niemandem etwas zuleide getan hatte
- Italien trat mit 400 000 Mann an – gegen Afrikaner, die mit Speeren und Pfeilbogen kämpften. Sie besassen keine Luftwaffe und keine Artillerie
- Mussolinis Sohn nahm als Kampfpilot teil. Bombardieren, so schwärmte er später in einem Buch, sei einer der «schönsten und komplettesten Sportarten», und er erinnerte sich gerne daran, wie «unterhaltsam es war, von oben zuzusehen, wie die Stammeskrieger wie eine Rose auseinanderplatzten, nachdem ich eine Bombe auf sie abgeworfen hatte»
Krieg in Abessinien. Rodolfo Graziani, der Oberbefehlshaber der italienischen Truppen, bei der Inspektion.
Der Sieg war rasch errungen, doch der Widerstand blieb. Als im Februar 1937 zwei Afrikaner einen Anschlag auf den italienischen Vize-König vornahmen, dabei sieben Menschen töteten und viele verletzten (unter anderem den Vize-König), gab der lokale Chef der Faschisten den italienischen Soldaten den Befehl, Vergeltung zu üben.
- Er gab ihnen drei Tage, «um die Äthiopier zu bestrafen, zu töten und mit ihnen anstellen, was immer Ihnen einfällt»
- Die Italiener nahmen ihn beim Wort und schlachteten in drei Tagen mehr als 3000 Afrikaner ab. Die Opfer hatten nichts mit den Attentätern zu tun gehabt
Mussolini, ein grosser Politiker? Er war nicht nur brutal und blutrünstig, sondern auch unfähig.
Am 20. Juni 1940 erklärte er Frankreich und Grossbritannien den Krieg – drei Tage, nachdem die Franzosen Hitler um einen Waffenstillstand gebeten hatten. Mit anderen Worten, der Krieg war eigentlich vorbei – meinte man in Europa, befürchtete Mussolini.
In der Hoffnung, im letzten Moment doch noch zu den Siegern zu gehören, hatte Mussolini die Neutralität seines Landes aufgegeben.
- Nazi-Deutschland, mit dem sich Mussolini verband, gewann den Krieg aber nicht
- Und Italien zahlte einen hohen Preis dafür. 300 000 Italiener sollten im Zweiten Weltkrieg fallen, 150 000 Zivilisten starben
- 1945 wurde Mussolini von Partisanen erschossen. Er hatte sich als deutscher Soldat verkleidet und wollte in die Schweiz fliehen
Gewiss, Giorgia Meloni war 19 Jahre alt – und, was man in der Jugend politisch denkt, grenzt oft an Irrsinn. Seither hat sich Meloni von Mussolini und dem Faschismus distanziert – wenn auch für meinen Geschmack zu wenig entschlossen, sondern halbherzig und spitzfindig. Mich hat die Frau nicht überzeugt.
- Gleichzeitig trifft zu: Wenn es um politische Vergangenheitsbewältigung geht, wird oft mit ungleichen Ellen gemessen, je nachdem, ob es um einen rechten oder linken Verbrecher geht
- Es gibt heute auf der Linken noch manche erwachsenen Politiker, über deren politischen Geschmackssinn man diskutieren kann
- Jean Ziegler (SP, GE), ein linkes Genie der Polemik, zeigte noch Sympathien mit Fidel Castro, dem kubanischen Diktator, als längst erwiesen war, wie viele Leute er hatte einsperren und umbringen lassen: «neugierig, offen und unkompliziert» sei er im Umgang gewesen, liess sich Ziegler im Blick zitieren, «äusserst herzlich»
- Oder Jacqueline Badran (SP, ZH) trat am letzten Sonntag mit einer Che Guevara nachempfundenen Uniform in der Öffentlichkeit auf, einem brutalen kommunistischen Killer ebenso – bloss zum Spass? Badran, die Spassmacherin
- Schliesslich steht fest: Im Parteiprogramm der Fratelli d’Italia, man mag es noch so schlimm finden, wird kein faschistisches Italien verlangt
Und dennoch steht Italien ohne Frage am Abgrund.
Dass jemand wie Meloni und ihre Partei auf einen Schlag von 4,4 Prozent Wähleranteil auf 26 Prozent anschwillt, zeigt zwei Dinge:
- Das politische System ist ruiniert. Solche Ausschläge sind nicht normal. Wenn sie vorkommen, deutet das immer auf eine tiefe Zerrüttung hin
- Die Italiener sind so verzweifelt, dass sie wählen, was ihnen gerade angeboten wird, sofern sie überhaupt noch wählen. Hauptsache: Ein neues Gesicht, eine Partei, die noch nie regiert hat
Benito Mussolini (1883-1945), der Duce. Ein Diktator, brutal und unfähig.
Und das sind die Faschisten ohne Frage. Seit 1945 waren sie in Italien nie mehr an der Macht.
Als Mussolini am Ende war, machte er dafür natürlich nicht sich selbst verantwortlich, sondern die Italiener. Sie hatten versagt.
Nach wie vor hielt er sich für einen grossen Mann, für einen Napoleon mindestens, nur der Charakter der Italiener hatte in seinen Augen zu wünschen übriggelassen:
«Selbst Michelangelo», sagte er, «hätte keine Statuen erschaffen, wenn er keinen Marmor dafür gehabt hätte. Wäre ihm nur Lehm zur Verfügung gestanden, wäre er bloss ein Töpfer geworden.»
Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag
Markus Somm