Historiker Niall Ferguson
«Wir laufen Gefahr, die natürlichen Stärken des Westens zu verlieren»
Der schottische Historiker Niall Ferguson ist überzeugt, es gibt einen Zweiten Kalten Krieg. Und wir stecken schon drin. China hat darin den Platz der Sowjetunion übernommen. Der «Nebelspalter» traf ihn anlässlich einer Vorlesung an der Uni Zürich auf Einladung des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP).
Warum das wichtig ist: Der Krieg in der Ukraine ist nur das Vorspiel für die nächste grosse geopolitische Auseinandersetzung, jene zwischen dem Westen und China.
Der Kontext: Dieser neue Kalte Krieg ist «schlimmer» als der erste, findet Ferguson; weil dessen wichtigste Gegner, die USA und China, ökonomisch auf das engste miteinander verbunden sind. Weder China noch die USA können sich im Moment einen «heissen Krieg», zum Beispiel über Taiwan leisten, wegen der drohenden ökonomischen Katastrophe.
Das Zitat: «Unsere Verletzlichkeit ist unsere Offenheit.»
Der Kern des Problems: Ferguson kritisiert den Zustand des Westens, insbesondere der USA – und dort speziell die Eliten, die Universitäten, die Regulierung und die Staatsfinanzen. Der Westen laufe Gefahr, seine Stärken zu verlieren.
- «Es gibt eine Pathologie der zunehmenden Regulierung und die Versuche, das zu ändern, sind bis jetzt gescheitert.»
- «Innovation entsteht dort, wo es am wenigsten, Korruption dort, wo es am meisten Regulierung gibt.»
- «Es gibt einen Unterschied zum Ersten Kalten Krieg: Jetzt ist es die Linke, die gegen freie Rede und für Rassentrennung in Universitäten ist.»
Was bedeutet das für Europa? Die EU muss sich gemäss Ferguson entscheiden, auf welcher Seite sie steht. Am liebsten würde sie im Zweiten Kalten Krieg abseitsstehen, aber das werde nicht gehen. «Speziell in Deutschland gibt es die Illusion, man könne sicherheitspolitisch von der Unterstützung der USA leben, ohne die damit verbundenen Verpflichtungen zu akzeptieren.» Aber auch hier gilt es, die Grundlagen der freien Welt wiederzuentdecken.
- «Der sozialdemokratische Konsens in Europa ist breit akzeptiert, sodass sogar Konservative ihn akzeptieren.»
Ferguson über die Universitäten und die Meinungsfreiheit: «Ich hätte zu Beginn meiner akademischen Karriere nie damit gerechnet, dass an Universitäten die freie Rede unter Druck gerät und ideologische Korrektheit und Selbstzensur verbreitet sind.»
- «Ich sorge mich darum, dass wir die Grundlagen einer freien Gesellschaft unterwandern, in dem wir jungen Leuten beibringen, die Freiheit zu verachten.»
- «Es gibt einen «Gedankenvirus», wie Richard Dawkins geschrieben hat, und bis jetzt gibt es keine Impfung dagegen.»
Das Interview anhören:
Im Interview erwähnte Bücher und Artikel:
Niall Ferguson: The Great Degeneration, London, 2013
Niall Ferguson: The Regulated States of America, The Wall Street Journal, 2013
Niall Ferguson: Der Westen und der Rest der Welt, Oxford 2013
Richard Dawkins: Viruses of the Mind, Oxford, 1993
Walter Isaacson: Elon Musk, 2023