Armeechef im Interview

«Wir dürfen kein Sicherheitsloch in der Mitte Europas darstellen»

image 12. September 2022 um 04:00
General in Krisenzeiten: Korpskommandant Thomas Süssli. Bilder: Ruben Sprich
General in Krisenzeiten: Korpskommandant Thomas Süssli. Bilder: Ruben Sprich
Thomas Süssli, Sie waren bis vor Kurzem in den Ferien. Waren es die ersten dieses Jahr?
Thomas Süssli: Ja. Ich wäre eigentlich die Woche nach dem 24. Februar, dem Tag der russischen Invasion, in die Ferien gefahren. Meine Frau war schon dort, und ich musste sie dann an diesem Donnerstag anrufen und sagen: «Schatz, ich komme nicht». Seither hatte ich keine Zeit mehr für Ferien.
Sie sind der Armeechef der Krisenzeiten. Kurz nach Ihrem Amtsantritt kam Corona und in einem fliessenden Übergang der Krieg in der Ukraine. Haben Sie sich eine weniger intensive Amtszeit vorgestellt?
Als ich mein Amt angetreten haben, fragte ich mich: Was kann auf mich als Armeechef zukommen? Am wahrscheinlichsten schien mir das Szenario einer Strommangellage. Nun hatten wir eine Pandemie sowie einen Krieg in Europa, und die Strommangellage wird vielleicht auch noch kommen. Alles aufs mal. Damit habe ich nicht gerechnet.
Die Armee steht plötzlich wieder im Vordergrund. Die Bevölkerung interessiert sich wieder für unsere Streitkräfte. Sie will wissen, ob wir uns im Notfall verteidigen könnten. Das neu erwachte Interesse, das es seit dem Kalten Krieg nicht mehr gab, katapultiert Sie ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Wie gehen Sie damit um?
Der grösste Effekt dieser Aufmerksamkeit war eine breite Wertschätzung in der Bevölkerung für unsere Miliz. Unsere Armee ist ja kein Selbstzweck, sondern für unsere Bevölkerung da. Sie hilft, sie schützt, sie kämpft. Das wird den Leuten wieder verstärkt bewusst, und unsere Miliz spürt das. Für mich persönlich hat sich nichts geändert. Als ich mich 2015 entschieden hatte, aus dem zivilen Leben ins Berufsoffizierskorps zu wechseln, tat ich dies, um etwas für die Sicherheit der Schweiz zu tun. Deshalb kam ich hierher, das ist meine Aufgabe und dafür engagiere ich mich.
Um unsere Sicherheit ist es nicht gut gestellt. Viola Amherd sagte zu Beginn des russischen Einmarsches: «Im schlimmsten Fall sind wir allein.» Sie sagten: «Wir können im Ernstfall vier Wochen durchhalten.» Das macht nicht gerade Mut.
Ja, aber das ist die Realität. Es gibt vier Gründe, weshalb ich zu diesem Schluss komme.
Und die lauten?
Ich möchte mich aber zuerst positionieren, bevor ich zu den Gründen komme.
Bitte.
Die Frage, die ich mir stellen muss, lautet: Was ist meine Aufgabe? Und je nachdem, was ich jetzt sage, kann man zum Schluss kommen: «Die Armee hat alles, was sie braucht.» Auf der anderen Seite muss ich schauen, dass die Miliz und auch die Bevölkerung nicht den Glauben an unsere Armee verlieren.

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Hat noch 20'000 Soldaten für die Verteidigung: Süssli.

Das liegt ja aber auch in der Natur der Sache, wenn der höchste Offizier der Schweiz sagt, dass wir nur vier Wochen durchhalten könnten.
Darum die vier Punkte. Erstens: Unsere Armee funktioniert immer noch nach der Konzeption der «Armee 21». Diese ist nach dem Sicherheitspolitischen Bericht 2000 entstanden, als man noch eine ganze andere Sicht auf die zukünftige Entwicklung der Welt hatte. Das war neun Jahre nach dem Niedergang der Sowjetunion. Damals hat man sich bewusst dazu entschieden, bei der Verteidigung nur noch eine reine Kompetenzerhaltung zu betreiben. Und man sprach von einer Aufwuchszeit von zehn Jahren. Seither hat man die Armee weiter verkleinert und ihr Budget gekürzt. Das hat dazu geführt, dass wir heute nur noch 20’000 Soldaten für die eigentlichen Verteidigungsaufgaben haben. Das ist eine Kompetenzerhalt-Verteidigungsarmee. Von der heutigen Armee zu fordern, dass sie die komplette Landesverteidigung über lange Zeit beherrscht, ist unrealistisch.

«Um die volle Verteidigungsfähigkeit wieder herzustellen, benötigen wir zehn Jahre.»


Zweitens: Die Luftwaffe. Wir haben dem Bundesrat im Bericht «Luftverteidigung der Zukunft» mehrere Optionen aufgezeigt. Er hat sich für die zweite Option mit 40 Kampfflugzeugen entschieden und dafür, dass «in Zeiten erhöhter Spannung» jeweils zwei Patrouillen immer in der Luft sind. Diesen Rhythmus können wir für einen Monat aufrechterhalten. Auch das war damals so gewollt und dementsprechend wurde entschieden. Ohne Luftüberlegenheit können wir aber auch mit unseren Truppen am Boden nicht mehr viel ausrichten.
Hat man sich mit der «Armee 21» also dafür entschlossen, die Schweiz nicht mehr zu verteidigen?
So kann man das sicher nicht sagen. Aber es wurden Entscheidungen getroffen, die bis heute prägend sind. Ich komme zum dritten Grund, der unsere Verteidigungsfähigkeit limitiert: die Logistik. Mit der Reform «Armee 21» hat man sich dazu entschlossen, eine betriebswirtschaftliche Logistik bei der Armee einzuführen. Das heisst: Wir haben vom Konzept der Kriegslogistik aus der «Armee 61» komplett gewechselt. Wir haben heute fünf statische Armeelogistikzentren in der Schweiz. In deren Hochregallagern ist beinahe das komplette Material für die Armee eingelagert. Und die Logistik ist komplett betriebswirtschaftlich aufgebaut. Wenn wir heute eine Verteidigungsübung planen, dann geben wir die Bestellung bereits weit im Voraus bei den Logistikzentren auf. Anfang WK fassen wir dann das Material, üben einige Tage und geben es wieder zurück. Aber das ist keine Kriegslogistik. Wir haben kein erprobtes Konzept, wie wir über eine längere Zeit Material in einem Kriegsfall instand halten und zur Truppe an der Front bringen sollen.
Und noch der letzte Punkt: die Bevorratung. Die ist natürlich als «geheim» klassifiziert und ich werde nichts sagen, was ich nicht darf (lacht). Aber es ist kein Geheimnis, dass die Bevorratung auf den Ausbildungsbetrieb ausgelegt ist plus Reserve. Das sind die vier Gründe, weshalb wir nur wenige Wochen lang verteidigungsfähig sind. Um die volle Verteidigungsfähigkeit wieder herzustellen, benötigen wir eine «Aufwuchszeit» von zehn Jahren, und die hat jetzt begonnen. Die Sicherheitslage in Europa hat sich verändert.
…aber die Armee bleibt auf ihrer Spur: Sie kauft einen Bestand von 36 Kampfflugzeugen und fünf Boden-Luft-Abwehrsysteme. Das ist nicht viel. Sie scheinen trotz des Krieges auf dem eingeschlagenem Sparweg weiterzumachen. Findet kein Umdenken in der Armee statt?
Schauen Sie, die Bedrohungslage aus Sicht der Armee wird so definiert: Das Potenzial multipliziert mit der Absicht. Das Potenzial ist das, was andere Länder an militärischen Mitteln zur Verfügung haben. Und die Absicht, die ist schwieriger einzuschätzen, wie man bei der Invasion in der Ukraine gesehen hat. Aber unsere Nachrichtendienste informieren laufend. Aus diesen Informationen können wir mögliche Szenarien ableiten. Und aus diesen Szenarien wiederum leiten wir die Massnahmen für die Ausrichtung der Armee ab. So haben wir auch das «Zielbild 2030» gefertigt, auf welchem unsere drei Konzepte Luft, Boden und Cyber basieren. Für eine Verteidigungsarmee der 2030-Jahre. Dieser Plan bietet eine Perspektive bis ins Jahr 2041. Um ihn realisieren zu können, sind ungefähr 40 Milliarden Franken notwendig. Mit den momentanen Beschaffungen geht es in die richtige Richtung.
Aber es fehlt der Armee auch an Menschen. Wir haben bislang von Material gesprochen. Aber 100’000 Mann reichen für die Verteidigung der Schweiz nie und nimmer. Woher nehmen Sie das nötige Personal und was tut hier die Militärverwaltung?
Die Alimentierung der Armee ist für uns momentan die grösste Herausforderung. Wir haben zu viele Abgänge. Wenn es so weitergeht, haben wir Ende der 2020-Jahre nicht einmal mehr den Bestand von 100’000 Armeeangehörigen. Was kann da die Militärverwaltung beitragen? Es ist ja alles im Militärgesetz niedergeschrieben: 100’000 Mann Soll-Bestand, 140’000 effektiv, so viele Dienstage und so viele WKs. Um das ändern zu können, brauchen wir die Politik, damit sie uns hilft.
Sie können dem Bundesrat Vorschläge bringen, damit dieser Zustand sich bessert.
Ja, es gibt deshalb auch den Bericht des Bundesrats, der zwei Varianten als Lösungen zur Weiterarbeit aufzeigt. Bei der Ersten würden Zivildienst und Zivilschutz zusammengelegt. Die zweite Variante sieht eine Stellungspflicht für Frauen vor. Dann wäre der Pool für mögliche Soldaten grösser und aus diesem nähmen wir dann diejenigen, die wir für geeignet betrachten. Das sind zwei Modelle, die wir – vom Bundesrat beauftragt – bis 2024 entwickeln werden. Aber schliesslich braucht es auch eine Volksabstimmung für die entsprechende Verfassungsänderung – bis es so weit ist, sind wir am Ende der 2020er Jahre.
Aber Bundesrätin Amherd wie auch Sie haben in der Vergangenheit stets betont, dass die Alimentierungsprobleme der Armee nicht durch eine Wehrpflicht für Frauen gelöst werden könne. Warum die Kehrtwende?
Das ist keine Wende. Für uns hängt das Frauenthema nicht direkt mit der Alimentierung zusammen. Wir hätten gerne zehn Prozent Frauenanteil in der Armee. Nicht wegen der Alimentierung, sondern weil diversere Teams grundsätzlich erfolgreicher sind. Zehn Prozent deshalb, weil man sagt, dass bei diesem Prozentanteil die Inklusion beginnt. Aber losgelöst davon: Im Alimentierungsbericht sind vier Möglichkeiten aufgezeigt worden. Zwei sahen einen generellen Bürgerdienst vor. Davon hat die Regierung abgesehen und sich für die Ausarbeitung der beiden genannten Optionen entschieden. Wir benötigen zuerst eine Lösung zum momentanen Dienstpflichtsystem und um das Alimentierungsproblem zu lösen, bevor wir darüber sprechen, den Bestand zu erhöhen. Wenn das Tischtuch zu klein ist, können Sie nicht auch noch den Tisch grösser machen. Also eines nach dem anderen. Momentan leistet ein Soldat 245 Tage Ausbildungsdienst. Sollte es aber einen Konflikt geben, kann der Bundesrat im Rahmen des Militärgesetzes im Notfall die Zahl der Dienstage in seiner Kompetenz bis auf die darin festgeschriebenen 280 Tage erhöhen, und mit Notrecht gäbe es auch noch andere Möglichkeiten den Bestand kurzfristig zu erhöhen
Jahrzehntelang wurde bei der Armee gespart. Sie wurde verkleinert und Systeme wurden ausser Dienst gesetzt. Jetzt aber enervieren sich Journalisten und Politiker, dass die Armee nicht verteidigungsfähig ist. Frustriert Sie das?
Die Armee hat einen Verfassungsauftrag. An uns ist es sachlich aufzuzeigen, was es braucht, damit wir diesen Auftrag erfüllen können. Das haben wir früher immer getan und das tun wir auch heute.
Sie waren lange in der Privatwirtschaft tätig. An einem Rapport kurz nach Ihrem Amtsantritt haben Sie gesagt, dass die Armee ebenfalls ein Produkt anbieten würde: Sicherheit. Nur die Nachfrage war immer klein. Das hat sich geändert. Aber dafür war ein Krieg in Europa notwendig. Scheinbar braucht es zuerst zig Tote, bevor sich die breite Bevölkerung wieder für Ihr Produkt interessiert?
Es ist ein Teil der Realität, dass sich die Welt verändert. Grosse geopolitische Veränderungen oder eben Konflikte führen zu neuen Bedürfnissen. Die Gegebenheiten in den 90er Jahren waren andere als heute. Gerade auch im Bereich Sicherheit. Es findet zudem ein gesellschaftlicher Wandel statt, und unsere Milizarmee ist immer Teil der Gesellschaft. Die Schweiz braucht die Armee, die die Gesellschaft will und akzeptiert. Das ist ein ständig laufender Prozess.
Sie stehen rege in Kontakt mit Generälen von verschiedenen Streitkräften auf der ganzen Welt. Wie nehmen diese die Schweizer Armee wahr? Was wird erwartet?
Erwarten tut im Ausland niemand etwas von uns. Ich denke, es ist vor allem die Bevölkerung, die erwartet, dass die Schweiz kein Trittbrettfahrer ist. Im Austausch mit anderen Ländern spüre ich aber schon, dass man will, dass es kein Sicherheitsloch in der Mitte von Europa gibt und dass ein reiches Land wie die Schweiz für seine Sicherheit und Verteidigung selber aufkommt. Das versteht man ja auch in der Schweiz. Wir können keine sicherheitspolitische Lücke in Europa sein. Eine gewisse Bewunderung gibt es von ausländischen Generälen immer wieder für unser Milizsystem. Dass ein Panzerbataillon am dritten Tag im WK bereits «Feuer und Bewegung» im scharfen Schuss übt, ist für sie unglaublich.
Noch kurz zum Abschluss zu Ihnen. Sie sind ja ein «Blauer» – ein Sanitätsoffizier. Da kam Ihnen Ihr Know-How während des Coronaeinsatzes zugute. Können Sie auch Krieg und Gefecht, oder mussten Sie wieder Dinge neu lernen?
Sie dürfen die Rolle des Armeechefs nicht überschätzen. Ich bin nicht der, der selbst an der Wand die neue Armee zeichnet und die grossen Operationen plant. Dafür habe ich Spezialisten: ein Kommando Operationen, ein Kommando Ausbildung, dazu die Logistik, die Führungsunterstützung und den Armeestab mit den Querschnittsbereichen. Meine primäre Aufgabe ist es, die Prozessabläufe sicherzustellen. Es soll uns optimal gelingen, das Wissen, das wir in der Armee haben, in unsere Konzepte einfliessen zu lassen. Aber natürlich: Ich bilde mich selber immer weiter. Ich lese auch immer wieder Reglemente. Ein Reglement, das mich schon immer fasziniert hat, ist «Die Panzerbrigade». Davon habe ich jede Seite gelesen, was mir heute noch hilft.

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Warten auf die Politik: Korpskommandant Süssli beim Bundeshaus.

Zur Person:
Korpskommandant Thomas Süssli (*1966 in Zürich) ist seit 2020 Chef der Armee. Zuvor arbeitete der Wirtschaftsinformatiker für den Finanzplatz unter anderem in Basel, Zürich und London. Zuletzt war er CEO von Vontobel Financial Products in Singapur und verantwortlich für den Markteintritt der Bank Vontobel AG in Asien, bis er 2015 in das Berufsoffizierskorps eintrat. Süssli ist verheiratet und Vater von zwei Töchtern.

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