Somms Memo

Wie weiter mit der EU? Am besten mit Zwischenladung in Kanada. Vom Nutzen eines neuen Freihandelsabkommens.

image 10. März 2023 um 11:00
Ignazio Cassis im Gespräch mit EU-Vize Maroš Šefčovič.
Ignazio Cassis im Gespräch mit EU-Vize Maroš Šefčovič.
Der Nebelspalter baut sein erfolgreiches Angebot von Newslettern aus: Ab heute wird mein Kollege Dominik Feusi jeden Freitag ein Bundeshaus-Briefing veröffentlichen – das immer pünktlich um 14 Uhr 30 erscheint. Um Sie knapp, aber präzis auf dem neuesten Stand zu halten, wird unser Bundeshauschef die wichtigsten Geschäfte der vergangenen Tage analysieren und bietet einen Ausblick auf die kommende Woche: Was geschieht, worauf ist zu achten, auf welche Akteure kommt es an? Wer sich für Bundespolitik interessiert, wird bald nicht mehr auf dieses Briefing verzichten wollen: Feusi gilt als einer der besten Insider in Bern, was er weiss, weiss oft nur der Bundesrat selbst; was ihm entgeht, hat auch nicht stattgefunden. Sie erhalten diesen Newsletter vorerst kostenlos, weil Sie auch mein Memo abonniert haben. Und natürlich freut es uns, wenn es Ihnen gefällt und Sie es weiterleiten und dafür werben. Wir sind gespannt auf Ihr Feedback.
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Und nun zu meinem Memo. Die Fakten: Drei renommierte Wirtschaftsinstitute haben errechnet, was der Schweiz ein Freihandelsabkommen mit der EU nach dem Vorbild Kanadas bringen würde. Viel. Warum das wichtig ist: Das Rahmenabkommen ist tot, die Verhandlungen scheintot, ein neuer Ansatz drängt sich auf. Diese Woche hat sich Staatssekretärin Livia Leu zum achten Mal zu Sondierungsgesprächen in Brüssel eingefunden, um zu sondieren, ob nach dem Sondieren von der Sondierungsphase zur Post-Sondierungsstufe gewechselt werden könnte, mit dem Ziel, irgendwann im Jahre 2079 zu entscheiden, ob Verhandlungen zu einem neuen Abkommen mit der EU zu überlegen wären – oder ob wir nicht besser noch einmal sondieren sollten.
  • Es ist also unsicher
  • Fest steht nur, dass im Jahr 2079 Livia Leu diese Verhandlungen nicht mehr zu Ende bringen dürfte

Es ist ein unwürdiges Theater, auf das sich unsere Berner Diplomaten und ihr Chef Ignazio Cassis (FDP) eingelassen haben; man hat ihnen in Brüssel eine Nebenrolle versprochen, und nun werden sie nicht einmal als Statisten vorgelassen. Zwar trifft Bundesrat Cassis nächste Woche den EU-Vize-Theaterdirektor Maroš Šefčovič, einen ehemaligen kommunistischen Berufsschauspieler aus der Slowakei, zu einem weiteren Casting – doch dessen Ausgang scheint heute schon absehbar: Cassis erhält auch keine Aufgabe als Ersatz-Souffleur. Zeit für einen anderen Ansatz. Warum nicht Kanada? Das Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW), das Österreichische Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) in Wien und das Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern – allesamt hoch angesehene universitäre Einrichtungen – haben eine neue Idee: In einer Studie, die die drei Institute eben veröffentlicht haben, kommen sie zum Schluss, dass die Schweiz wohl am besten ein neues Freihandelsabkommen mit der EU anstreben sollte, das sich nach dem Modell des CETA richtet, des «Comprehensive Economic and Trade Agreement», das die EU vor ein paar Jahren mit Kanada abgeschlossen hat. Seit 2017 ist es zum Teil in Kraft gesetzt worden – zum Teil, weil bisher nicht alle EU-Staaten es ratifiziert haben (17 von 28). Es wird indes mit einigen Ausnahmen bereits angewendet.
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Wenn wir an unser Freihandelsabkommen von 1972 (FHA) und die Bilateralen Verträge I sowie II denken, die unser wirtschaftliches Verhältnis zur EU heute weitgehend bestimmen, dann böte das CETA wohl eine überaus interessante Weiterentwicklung. Eine Auswahl:
  • Gemäss EU hat das Abkommen 99 Prozent sämtlicher Zölle zwischen der EU und Kanada aufgehoben – selbst für landwirtschaftliche Produkte (rund 92 % der Zölle)
  • Ebenso sollen fast alle Normen und Vorschriften, also nichttarifäre Handelshemmnisse, gegenseitig anerkannt oder angepasst werden
  • Ferner können Unternehmen aus der EU sich jederzeit in Kanada um öffentliche Aufträge bewerben – und umgekehrt
  • Zwar herrscht keine Personenfreizügigkeit, doch können Unternehmen ihr Personal leicht und für eine gewisse Zeit zwischen der EU und Kanada verschieben
  • Schliesslich ist ein «zwischenstaatliches Streitschlichtungsverfahren» vorgesehen, wo ein gemeinsames Schiedsgericht zum Einsatz kommt. Allerdings dürfen die Partner auch die WTO anrufen, um einen Konflikt zu lösen
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Wenn das CETA für die Schweiz bedenkenswert erscheint, dann vor allem wegen der zwei letzten Punkte:
  1. Die Personenfreizügigkeit, wie sie die Bilateralen Verträge I im Jahr 2002 eingeführt haben, dürfte auf lange Sicht in der Schweiz nicht mehrheitsfähig bleiben – zumal die Bevölkerung seit diesem Zeitpunkt um rund 1,5 Millionen Menschen gewachsen ist. Das entspricht einem Zuwachs von über 21 Prozent – in bloss zwanzig Jahren. Wie lange geht das noch gut?
  2. Im CETA kommt dem EU-Gerichtshof keine Rolle zu, wenn Konflikte auftreten. Daran ist am Ende das Rahmenabkommen gescheitert – weil es höchstwahrscheinlich in der Volksabstimmung durchgefallen wäre. Weder SVP noch die Gewerkschaften waren bereit, einem Gericht der Gegenseite (der EU) diese Kompetenz einzuräumen. Ein Schiedsgericht (oder die WTO) entspricht den Gepflogenheiten zwischen souveränen Vertragspartnern viel besser

Kurz, politisch brächte ein Kanada-Abkommen sicher Vorzüge – aber auch Nachteile, das ist zuzugeben. Ob die Schweizer Bauern 92 Prozent der Importzölle für landwirtschaftliche Produkte aus der EU aufgeben möchten? Hier wäre viel Verhandlungsbedarf mit der EU vonnöten.
Schweizer Hühner bleiben jedenfalls skeptisch – mit Blick auf die Lebensbedingungen ihrer Kollegen in Polen. Dagegen wäre wirtschaftlich gesehen ein Kanada-Ansatz ein No-Brainer. Die Vorteile sind bedeutend. Darüber lässt die Studie der Institute keinen Zweifel. Um dessen Nutzen zu messen, haben die Forscher drei Szenarien verglichen:
  • Ein CETA, bei dem aber die heutige Intensität der Beziehungen (FHA 1972, Bilaterale I/II) nicht unterschritten würde
  • Ein vertragsloser Zustand, wo nur die Regeln der WTO gälten
  • Die Schweiz in der EU als Vollmitglied

Allein wirtschaftlich betrachtet – so ehrlich sind die Autoren – brächte ein Beitritt wohl am meisten.
  • Die Exporte stiegen, die Importe auch, die Wertschöpfung legte um 4 % zu, das Realeinkommen um
7,2 %
Dagegen käme die WTO-Lösung wohl einem Debakel gleich, das uns ärmer machte:
  • Wertschöpfung: - 1,6 %, Realeinkommen: - 2,6 %

Im Vergleich dazu wirkt ein Swiss-CETA wie der goldene Weg der Mitte:
  • Die Wertschöpfung nähme um 1,5 % zu, das Realeinkommen um 2,4 %
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Gewiss, das ist weniger, als ein EU-Beitritt zu versprechen scheint, doch angesichts der Tatsache, dass die Studie sehr viele indirekte politische Vorzüge der Schweiz nicht berücksichtigt, die sich auch wirtschaftlich auswirken, dürfte sich ein CETA-Abkommen unter dem Strich fast genauso rechnen. Die Autoren stellen fest: «Eine Vollmitgliedschaft würde jedoch ökonomische Harmonisierungskosten mit sich bringen, die nicht systematisch quantifizierbar sind.» Dazu zählen Folgen für die öffentlichen Finanzen, die Sozialversicherungen oder die Immobilienpreise. Und politisch bewertet ist ein EU-Beitritt bei den Schweizern etwa so mehrheitsfähig wie ein Beitritt zu Kasachstan. (OK, hier läge die Zustimmung vielleicht unter 6,5 %. So viele junge Schweizer wollten im Oktober 2022 sich noch der EU anschliessen). Man mag das bedauern (ich nicht), aber das heisst Demokratie. Oder wie es Thomas Jefferson, einer der grossen Gründerväter Amerikas, einmal ausdrückte: «Demokratie ist, wenn zwei Wölfe und ein Schaf entscheiden, was es zu Essen gibt.» Ich wünsche Ihnen ein fantastisches Wochenende Markus Somm PS. Die Studie «Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU: Quantitative Bewertung unterschiedlicher Szenarien der zukünftigen Zusammenarbeit» von Gabriel Felbermayr (WIFO Wien), Inga Heiland (IfW Kiel), Martin Mosler (IWP Luzern) und Christoph Schaltegger (IWP Luzern) finden Sie hier.

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