Somms Memo
Wie kommt man in den Bundesrat? Eine Anleitung für Querulanten
Christoph Blocher, Bundesrat von 2003 bis 2007.
Die Fakten: Grünliberale und Grüne drängen in den Bundesrat. Sie begründen dies mit ihrem steigenden Wähleranteil.
Warum das wichtig ist: Historisch betrachtet spielte die Parteistärke zwar immer eine Rolle. Doch in den Bundesrat kam nur, wer die anderen dazu zwang.
Ich möchte in diesem Memo das Thema vertiefen, das ich gestern am Beispiel der GLP und ihrer Bundesratsambitionen behandelt habe:
- Wie werden die Sitze im Bundesrat eigentlich verteilt?
- Welche Partei kommt hinein, welche bleibt draussen?
Um das zu klären, wende ich mich der schweizerischen Geschichte zu. Es gibt gar nicht so viele Bundesratswahlen, die man als entscheidend bezeichnen muss, was die Zusammensetzung der Regierung betrifft. Wer ist da überrascht?
- In der Schweiz, der ältesten bestehenden Demokratie Europas, wenn nicht fast der ganzen Welt, geht alles langsamer vonstatten. Viel langsamer
- Revolutionen fanden seit 1291 eher selten statt, Rebellionen öfter, aber höflicher: die Schweiz gleicht einem Gletscher, der Jahr für Jahr um Millimeter zulegt oder schrumpft
1848 wurde der neue Bundesstaat gegründet, dabei schuf man auch den Bundesrat, vorher hatte die Schweiz streng genommen keine nationale Regierung gekannt – in den einzelnen Kantonen wurde regiert, an der Tagsatzung, dem gemeinsamen Gremium seit dem 15. Jahrhundert, palavert.
Der neue Bundesrat konstituierte sich als Kollegialregierung. Das war ein Unikum in Europa, und blieb es bis heute: Kein Chef, sondern sieben gleichberechtigte Chefs, die sich wie einer basisdemokratischen WG jeden Tag um das Abwaschen streiten können, ohne dass irgendjemand den Vorrang hätte. Niemand besitzt den Mietvertrag.
- 1848 wurde der erste Bundesrat gewählt: es gab 7 Sitze, darauf setzten sich 7 Freisinnige. Für die Opposition: insbesondere die Katholisch-Konservativen (KK, später CVP, heute Mitte) war kein Platz
- 1891, nach 43 Jahren (!), wurde der erste Katholisch-Konservative aufgenommen. Neu gab es 6 Freisinnige, und einen Vertreter der KK
- 1919 erhielt die KK (CVP) einen zweiten Sitz
- 1929 stiess die BGB (heute SVP) in den Bundesrat vor. Bei dieser Bauernpartei handelte es sich um eine Abspaltung des Freisinns. Die BGB war 1919 zum ersten Mal bei den Nationalratswahlen angetreten. Neu stellte die FDP 5 Bundesräte, die CVP 2 und die SVP 1. Die SP, obwohl inzwischen wählerstärkste Partei, wurde übergangen. Der sogenannte Bürgerblock wollte sich nicht stören lassen
- Bis es nicht mehr anders ging. 1943 wurde mit Ernst Nobs der erste Sozialdemokrat in den Bundesrat gewählt. Die SP hatte schon 1902, also 41 Jahre zuvor, einen Wähleranteil von zehn Prozent übertroffen (12,6 Prozent). Jürg Grossen, Präsident der GLP, hat vor kurzem den Anspruch seiner Partei auf einen Bundesratssitz so begründet
- 1959 setzte sich die «Zauberformel» durch, wonach die drei grössten Parteien zwei Sitze besetzten, die kleinste einen. Das bedeutete das definitive Ende der freisinnigen Hegemonie im Bundesrat
- 2003 wurde die «Zauberformel» angepasst. Die SVP erhielt einen zweiten Sitz, nachdem sie 1999 zur grössten Partei aufgestiegen war. Christoph Blocher wurde gewählt. Die CVP musste einen Sitz abgeben. Nach einem Intermezzo nach der Abwahl von Blocher gilt diese Formel nach wie vor: FDP, SP, SVP je 2, CVP (jetzt Mitte) 1
Wenn wir nun diese verschiedenen Wahlen betrachten, dann zeigt sich, dass es auf zwei Regeln ankommt. Ich habe sie gestern bereits aufgestellt:
- Entweder gelangt eine Partei in den Bundesrat, weil sie eine gewisse Wählerstärke erreicht hat – und man sie unbedingt zur Mehrheitsbeschaffung braucht
- Oder man integriert die Partei, weil sie als Opposition so viel Radau macht, dass man nicht mehr anders kann. Radau heisst: Die Partei gewinnt Referenden und bringt Volksinitiativen durch. Ausserdem geht sie allen im Establishment auf die Nerven
1919 und 1929 bestätigen die erste Regel. Nachdem man 1919 bei den Nationalratswahlen zum Proporzverfahren übergegangen war und sich die BGB vom Freisinn abgesetzt hatte, büsste die FDP ihre absolute Mehrheit ein.
Ein Fiasko, eine Sensation: Noch 1914 war die FDP auf 56,1 Prozent Wähleranteil gekommen!
Um die bürgerliche Mehrheit gegen die erstarkende SP zu retten, musste die FDP der CVP einen zweiten Sitz überlassen, 1929 nahm man aus dem gleichen Grund die SVP in den Bundesrat auf.
1891 belegt die zweite Regel. Seit die Schweiz 1874 die direkte Demokratie auch auf Bundesebene geschaffen hatte – zuerst mit Einführung des Referendums, dann mit der Volksinitiative – war die katholisch-konservative Opposition (KK) endgültig zu einem Verkehrshindernis geworden. Es kam zum Stau in der Gesetzgebung, es kroch der Geschäftsverkehr im Parlament, Bern stand still.
Die Katholisch-Konservativen hatten eine Vetomacht errungen.
Es half der FDP nichts, dass sie im Bundesrat alle sieben Sitze besetzte und im Nationalrat und im Ständerat über erdrückende Mehrheiten verfügte.
Sie verlor trotzdem eine Volksabstimmung nach der anderen – weil die Katholisch-Konservativen ein Referendum nach dem anderen ergriffen und gewannen.
1884 lehnte das Volk an einem einzigen Sonntag alle vier Vorlagen ab, die ihm der freisinnige Bundesrat und das freisinnige Parlament vorgelegt hatten. Die Katholisch-Konservativen, die diskriminierte, verspottete, verhasste Minderheit in Bundesbern, lachte zuletzt am besten.
Als es den Katholisch-Konservativen 1890 auch noch gelang, die Verstaatlichung der SBB in einer Volksabstimmung zu hintertreiben, war das Mass voll.
Zähneknirschend, angeekelt und gedemütigt musste der Freisinn der KK einen Bundesratssitz zugestehen. Der neu gewählte Josef Zemp setzte dann die Verstaatlichung der Bundesbahnen durch – nachdem er sie vorher noch mit aller Leidenschaft bekämpft hatte.
So geht Demokratie in der Schweiz.
Wenn wir 1943, 1959 und 2003 analysieren, dann kann man von einer Mischung beider Regeln reden.
Eine sehr grosse Partei (SP bzw. SVP), die ziemlich allen und das regelmässig in die Suppe gespuckt hat und deshalb nur am Katzentisch sitzen durfte, wird endlich an die grosse Tafel geladen.
Mit anderen Worten: Es geht um Macht, nicht um Mathematik. Gewiss, ohne höheren Wähleranteil geht gar nichts, aber es reicht nicht, über zehn oder zwanzig Prozent zu gelangen. Sondern man muss, wie es der legendäre Parteichef der SP, Helmut Hubacher, einmal ausdrückte: Auch «schampar unbequem» werden.
Margaret Thatcher (1925-2013) Premierministerin von Grossbritannien, von 1979 bis 1990.
Was das Geheimnis der Macht anbelangt, wusste Margaret Thatcher, die einstige britische Premierministerin, sowieso alles besser:
«Macht ist wie eine Lady … Wenn Sie es den Leuten sagen müssen, dass Sie eine sind, dann sind Sie keine.»
Ich wünsche Ihnen einen wundervollen Tag
Markus Somm