Somms Memo

Wie Finn Canonicas Ruf zerstört wurde. Ein Lehrbeispiel des medialen Wahnsinns.

image 7. März 2023 um 11:00
Finn Canonica, von 2007 bis 2022 Chefredaktor des Magazins.
Finn Canonica, von 2007 bis 2022 Chefredaktor des Magazins.
Somms Memo gibt's auch als kostenlosen Newsletter. Täglich in Ihrer Mailbox.
Jetzt abonnieren

Die Fakten: Finn Canonica, einst Chefredaktor des Magazins, soll eine Mitarbeiterin geplagt und sexuell belästigt haben. Ein Bericht widerlegt so gut wie alle Vorwürfe. Warum das wichtig ist: Die #MeToo-Revolution frisst ihre Kinder. Die Medien, die jahrelang angeblichen Opfern fast alles geglaubt haben, werden selbst zum Opfer. Wenn Finn Canonica, ein glänzender Journalist, von seiner Mitarbeiterin Anuschka Roshani sprach – so erzählt diese selbst –, dann verwendete er so schöne Begriffe wie:
  • die «Ungefickte»
  • Du «Pfarrermätresse» (weil sie einem Pfarrer nahegestanden haben soll)
  • oder er behauptete vor der versammelten Redaktion, ihr Mann, ein stadtbekannter Verleger, habe einen «kleinen Schwanz»

Manchmal kritzelte Canonica beim Redigieren auch Hakenkreuze an den Rand eines Manuskriptes von Roshani, wenn er eine bundesdeutsche Wendung entdeckte, wie etwa Kekse (statt Guetzli), was ihn störte (zu Recht). Roshani, deren Mutter Deutsche ist, deren Vater jedoch aus Persien stammt, empfand das ihrerseits als eine Verhöhnung ihrer Herkunft (ebenfalls zu Recht). Und einmal schrieb er ihr, nachdem sie ein Sonderheft gestaltet hatte, das vor seinem strengen Urteil bestehen konnte:
  • «Obwohl Du eine Frau bist, hast Du brilliert.»

Sexismus, Rassismus, die Schreckensherrschaft des alten weissen Mannes bei der TX Group, dem linksliberalen und grössten Verlag der Schweiz. Haben wir es nicht immer geahnt? Umso frömmer einer redet, umso sündiger seine Taten.
image
Seit Roshani vor ein paar Wochen diese Geschichten in einem vierseitigen Gastbeitrag für das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel ausgebreitet hat, ist Feuer im Dach in den Schweizer Medien. Nicht nur in der TX Group, die das Magazin herausgibt, sondern auf so gut wie allen Redaktionen brach zunächst eine Art des kollektiven Wahns aus, eine Mischung aus Voyeurismus, Erschütterung und Schadenfreude herrschte vor, es flutschte und klatschte, es tropfte und saftete:
  • Ausgerechnet im Magazin, dem Intelligenzblatt des linken Juste Milieus, konnte sich offenbar ein Grobian der gröberen Sorte, ein Frauenverächter, Deutschenhasser, kurz ein Charakterlump jahrelang erlauben, was ihm gerade einfiel,
  • ohne dass die vielen sonst so sensiblen (linken) Redaktoren (besonders die Männer, allesamt Feministen) dagegen einschritten

Ringier, der Konkurrenzverlag, lachte (und freute sich, dass niemand mehr von der Standleitung ihres CEOs zu Bundesrat Alain Berset redete), die NZZ runzelte die Stirn, die Republik erkundete das sexistische Terrorregime bei der TX Group (wobei man zuweilen den Eindruck gewann, es gehe schlimmer zu und her als im Iran), und die CH Media-Zeitungen förderten weitere Gruselgeschichten zutage (die man später auf juristischen Druck hin wieder löschte). Zu gruselig – oder zu falsch? Wahrscheinlich einfach falsch. Denn nachdem Canonica in allen Medien faktisch hingerichtet worden war, sein Ruf so ruiniert schien wie jener von Jack the Ripper nach dessen fünften Mord, gelang es Roger Schawinski, dem Chef von Radio 1, Einblick in den Untersuchungsbericht zu erhalten, den die TX Group vor knapp einem Jahr hatte verfassen lassen, um Roshanis Vorwürfe zu überprüfen.
  • Die TX Group hatte damit Rudin Cantieni beauftragt, eine renommierte Anwaltskanzlei in Zürich, die sich auf die Aufklärung solcher #MeToo-Fälle spezialisiert hat
  • Das Gutachten, das die Anwälte im Mai 2022 ablieferten, umfasst 230 Seiten. In zum Teil sehr langen Interviews hatten sie diverse Magazin-Journalisten befragt, natürlich auch «Täter» und «Opfer»

Mit anderen Worten: Sehr viel professioneller und sorgfältiger konnte man die Vorfälle, die oft Jahre zurücklagen, nicht untersuchen. Auch nicht sehr viel unabhängiger. Die TX Group hatte nichts zu melden, zumal Rudin Cantienis Reputation gerade darin besteht, dass der Auftraggeber, selbst wenn es die UNO wäre, nichts zu melden hat.
Der Befund der Anwälte war vernichtendfür Anuschka Roshani. So gut wie keine Gruselgeschichte konnte verifiziert werden. Ein paar Auszüge:
  • «Zusammenfassend ergibt sich, dass auch die meisten Vorwürfe gegenüber Finn Canonica verneint werden mussten»
  • «Bossing gegenüber Anuschka Roshani scheidet aus, da es an der Zielgerichtetheit und Systematik über längere Zeit fehlt und gerade sie auch Privilegien genoss, die andere nicht hatten»
  • «Die Sonderbehandlung eines bezahlten Sabbaticals stellt eine Bevorzugung gegenüber anderen dar und schliesst ein gleichzeitiges Bossing gegenüber Anuschka Roshani eigentlich aus»
  • «Nicht bestätigt wurde (von Redaktionsmitgliedern) die Aussage, dass Finn Canonica bösartige, höchst verächtliche Aussagen über Anuschka Roshani machte»

An Roshanis Glaubwürdigkeit liessen die Anwälte keinen guten Faden:
  • «Anuschka Roshani baut ihre Versionen ihrerseits stetig aus»
  • «Anreicherungen können Hinweise auf bewusste Lügen oder aber auf suggestive Einflüsse sein»
image
Der einzige Vorfall, der bestätigt (und selbstverständlich kritisiert wurde), betraf das Gegenlesen im Zeichen des Hakenkreuzes.
  • Das könne «entgegen Finn Canonicas Beteuerung nicht als verrutschter, schlechter Humor angesehen werden»
  • Vielmehr müsse darin «eine Diskriminierung aufgrund der Nationalität gesehen werden, auch wenn sich sonst keinerlei derartige Diskriminierungstendenzen feststellen liessen»

Dass Canonica jüdischer Herkunft ist, wurde dabei nicht berücksichtigt. (Canonicas Mutter hat als Kind den Holocaust überlebt.) Wohl zu Recht. Wenn das auch diesen abstrusen Humor etwas erklären mag, so bleibt es eine Geschmacklosigkeit sondergleichen. Trotzdem: Hat Finn Canonica diesen Rufmord verdient? War er als Chefredaktor nicht mehr tragbar? (Die TX Group hat sich im Sommer 2022 von Canonica getrennt.) Wohl kaum. Schlechter Humor ist kein Verbrechen – und auch kein Entlassungsgrund.
image
Hier beginnen die Ungeheuerlichkeiten erst recht. Und sie sagen viel über den Niedergang der Medien aus.
  • Der Spiegel, früher ein höchst zuverlässiges und deshalb angesehenes Recherche-Magazin, druckt eine Geschichte, wo nur eine Version zum Zug kommt, die sehr wahrscheinlich falsch ist. Ein Frontbericht einer mutmasslichen Lügnerin – aus einer Schlacht, die niemals stattfand
  • So gut wie alle Schweizer, ja selbst deutsche Medien übernehmen Roshanis Version. Canonica ist virtuell gestorben, bevor er geboren worden war
  • Und das Ungeheuerlichste: Als Schawinski Teile des Gutachtens veröffentlichte, das doch die Sache stark relativierte, kümmerte das kaum einen anderen Journalisten. Kaum etwas wurde zitiert, fast nichts darüber berichtet. Solange die Gefahr bestand, damit das Opfer Roshani als Täterin zu überführen, fehlte es offenbar an der journalistischen Neugierde

Wer wie Canonica den Fehler gemacht hat, zu Unrecht angeklagt zu werden, darf nie mehr aus dem Gefängnis kommen. Stattdessen wurde Anuschka Roshani heute Abend in den Literaturclub des Schweizer Fernsehens eingeladen. Über welches Buch sie wohl redet? Ich empfehle die Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Im Übrigen rate ich der TX Group dringend, gegen den Spiegel zu klagen. Auch der Ruf der TX Group ist beschädigt. Nach Angaben ihres Pressesprechers werden rechtliche Schritte geprüft. Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Tag Markus Somm PS Roger Schawinski hat mit Finn Canonica ein aufschlussreiches, wenn auch zuweilen schmerzhaftes Gespräch geführt: Doppelpunkt auf Radio 1, 5. März 2023. Auszüge aus dem Untersuchungsbericht hier. PPS Nein, Amerika ist nicht ausgestorben, wie viele Leser befürchteten, nachdem sie gestern meine Grafik zu den Corona-Toten betrachtet hatten. Vielmehr ist uns gestern ein peinlicher Fehler unterlaufen. Wir bringen die korrigierte Grafik heute noch einmal:
image

#WEITERE THEMEN

image
Transparenz in der Politik

Links-Grün: Regeln fordern und selbst umgehen

22.9.2023

#MEHR VON DIESEM AUTOR

image
The Somm Show

Stefan Brupbacher: «Wir müssen unsere Leute dazu bringen, wieder mehr zu arbeiten»

19.9.2023