Wer oben ist, steigt kaum je ab. Soziale Ungleichheit in der Schweiz
Besucher am Pferderennen White Turf in St. Moritz.
Die Fakten: Die soziale Ungleichheit hat sich in der Schweiz seit fast hundert Jahren kaum verändert – trotz Kriegen, Krisen und Hochkonjunkturen.
Warum das wichtig ist: Der Befund erfreut und irritiert zugleich. Zwar ist die Schweiz nicht ungleicher geworden. Doch offenbar haben alle Versuche der Politik, mehr Gleichheit herzustellen, wenig bewirkt.
Das neue Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik IWP an der Universität Luzern will die soziale Ungleichheit in unserem Land neu vermessen. Dabei schwebt den Forschern um den angesehenen Ökonomieprofessor Christoph Schaltegger eine Swiss Inequality Database vor, eine Datenbank, wo die Einkommensverteilung in jedem Kanton seit 1917, sowie die Entwicklung der Steuerlast und die unterschiedliche Umverteilungspolitik verzeichnet sind. Sie soll in Kürze zur Verfügung stehen.
Ziel ist es, jedermann Daten zugänglich zu machen – zu einem Thema, das die politische Debatte seit Jahren bestimmt – und vergiftet:
- Werden die Reichen immer reicher – und die Armen immer ärmer, wie die Linke das beklagt?
- Und wenn ja: Was ist dagegen zu tun?
Die Rezepte der Politik sind seit langem bekannt – und sie haben sich kaum verändert:
- Mit progressiven Steuern will man die Einkommensverteilung etwas «fairer» machen
- ein kostenloses, öffentliches Bildungswesen soll Chancengleichheit herstellen. Ob arm oder reich: Intelligenz und Leistung allein entscheiden darüber, wer welche Schule besucht
Wenn heute vor allem die SP dieser Politik im Namen der «sozialen Gerechtigkeit» das Wort redet, dann täuscht das darüber hinweg, dass es ursprünglich der Freisinn war, der diese Politik schon im 19. Jahrhundert ins Leben gerufen und vorangetrieben hatte:
- ab 1830 führten die liberalen Kantone die unentgeltliche, meritokratische Volksschule ein
- Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kämpften die linksbürgerlichen Demokraten für die Steuerprogression (Die Demokraten stehen für das D in der alten FDP, der Freisinnig-demokratischen Partei)
Aber trotz aller Versuche, mehr Gleichheit zu erreichen: Die Bilanz bleibt ernüchternd, wie ein Befund beweist, den das IWP letzte Woche veröffentlichte:
- Der Anteil des obersten Prozents der reichsten Schweizer am Gesamteinkommen des Landes beträgt rund 10 Prozent
- Das ist heute so – und das war schon 1917 der Fall
Mit anderen Worten, nahezu zweihundert Jahre Gleichheitspolitik haben wenig erreicht.
Wenn wir uns vor Augen führen, wie sehr sich die Schweiz seit 1917 gewandelt hat, wie grossflächig sich die Politik bemüht hat, diese Ungleichheit abzubauen, dann ist das ein umso erstaunlicheres Ergebnis:
- Insbesondere hat die Bildungsexpansion der 1960er und 1970er Jahre, die sehr viel mehr Kindern aus einfachen Verhältnissen ein Hochschulstudium ermöglichen sollte, offensichtlich wenig Wirkung entfaltet
- Kulturell mag unsere Gesellschaft «offener», sprich: demokratischer, weniger hierarchisch und weniger autoritätsgläubig geworden sein, doch die reale Ungleichheit berührte das kaum
Oder anders ausgedrückt: Wenn ein Millionär neuerdings auch in zerrissenen Jeans herumläuft und sich die Haare seltener schneiden lässt, hat das wenig mit seinem Kontostand zu tun.
Zwar mag man für erfreulich halten, dass sich die ungleichen Verhältnisse seit 1917 nicht verschärft haben.
- Was die Linke seit Jahren behauptet, trifft also nicht zu
- Die Schweiz ist kein «ungerechteres Land» geworden
Ebenso ist zu beachten, dass wir hier über die Einkommensverteilung vor Steuern reden. Nachdem die wohlhabendsten Schweizer ihre Steuern bezahlt haben, dürfte ihr Nettoeinkommen etwas weniger weit vom durchschnittlichen Einkommen ihrer Mitbürger liegen. Dennoch ändert sich am Gesamtbild damit wenig.
Dennoch besteht kein Anlass zur Unruhe – sofern wir aus dem Befund die richtigen Lehren ziehen:
- Wer glaubt, die reiche Schweiz stünde besonders schlecht da, irrt sich. Im Vergleich zu den meisten Ländern der Welt muss die Schweiz als ziemlich egalitär bezeichnet werden
- Dass sich die vorhandene Ungleichheit im Lauf der Zeit weder vertieft noch abgemildert hat, ist eine gute Nachricht. Manche Länder sind heute – relativ betrachtet – ärmer und ungleicher als vor hundert Jahren. Das gilt zum Beispiel für Russland
- Die Politiker müssen bescheidener werden, was ihre sozialpolitischen Ambitionen anbelangt. Soziale Ungleichheit lässt sich viel weniger leicht beeinflussen als wir uns das vorgestellt haben. Das bedeutet nicht, dass Sozialpolitik überflüssig wäre, doch die «soziale Gerechtigkeit» der Linken, will heissen: deutlich mehr Gleichheit dürfte sich als Utopie erweisen
Tatsächlich gibt es kaum etwas Stabileres als soziale Ungleichheit.
Das zeigt ein brillantes Buch, das der britische Ökonom Gregory Clark vor wenigen Jahren vorgelegt hat. Clark lehrt an der University of California, Davis. Am Beispiel so unterschiedlicher Länder wie England, Schweden, USA, China, Taiwan oder Indien erforschte er die soziale Mobilität – über die Jahrhunderte hinweg.
Dabei wandte er eine ingeniöse Methode an. Statt sich auf Einkommensdaten zu stützen, konzentrierte er sich auf Familiennamen, also Kennzeichen eines Individuums, die dauernd weitervererbt werden. Das ermöglichte es ihm, etwa die Karriere einer chinesischen Familie vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart zu verfolgen.
Junge englische Adlige in ihrem Wohnzimmer.
Seine Ergebnisse sind verblüffend.
Was immer in diesen langen Jahrhunderten geschah – Kriege, Krisen und Revolutionen, Vertreibungen und Massaker – auf den sozialen Aufbau der betroffenen Gesellschaft hatte das kaum eine Wirkung. Insbesondere gilt die Regel:
Wer sich in der sozialen Hierarchie oben befindet, muss sich sehr anstrengen, damit er absteigt. Es dauert Jahrhunderte, bis eine adlige Familie zu einer Gruppe von Normalsterblichen wird
Ein Beispiel bleibt mir unvergessen:
- Im Jahr 1066 eroberte Wilhelm II., Herzog der Normandie, England
- Umgehend verteilte der neue König die besten Ländereien an seine engsten Leute: Abenteurer, Kriegsgurgeln, Killer wie er selbst. Sie verdrängten den alten angelsächsischen Adel
- Der neue, normannische Adel herrschte für Jahrhunderte in England. Zuerst sprachen sie nur Französisch, irgendwann lernten sie Englisch
Wer zur Aristokratie gehörte, trug deshalb in der Regel einen französischen Namen:
- Neville
- Montgomery
- Darcy
- Sinclair
Zwar verloren viele dieser Familien, die 1066 nach England gekommen waren, im Lauf der Zeit ihre herausragende Stellung, so fand Clark heraus. Aber es dauerte sehr, sehr lange.
- Noch heute sind Leute normannischer Herkunft an den beiden Elite-Universitäten Oxford und Cambridge übervertreten
- Und manch einer, der einen solchen schillernden Namen trägt, verdient noch heute mehr als der unglückliche Abkömmling der Angelsachsen, die 1066 unnötigerweise eine Schlacht verloren hatten
Das war vor 956 Jahren – oder 31 Generationen.
Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Tag
Markus Somm
Buchhinweis:
Gregory Clark, The Son Also Rises. Surnames and the History of Social Mobility, Princeton 2014.