Somms Memo
Wenn die Zürcher Wahlen die Nationalratswahlen vorgeben, dann Gute Nacht. Eine Gebrauchsanleitung für bürgerliche Politiker.
Zürich, Vorbild oder Warnung für die Schweiz?
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Die Fakten: Die Zürcher Wahlen im Frühling geben jeweils vor, wie im Herbst die Nationalratswahlen ausgehen. Seit 2003 war das so gut wie immer der Fall.
Warum das wichtig ist: Das ist bitter für die Bürgerlichen. Ihr Desaster verewigt sich. Es sei denn.
Selten habe ich so viel Zuspruch erhalten wie gestern:
- Hätte man die E-Mails gehört, die mir geschrieben worden sind: Man hätte das Schluchzen, Heulen und Toben gehört
- Wer im Kanton Zürich bürgerlich denkt, war erheblich enttäuscht über die faktische Niederlage von SVP und FDP am vergangenen Sonntag. Kann es denn so schwer sein, einen Wahlkampf zu führen?
Woran es liegt, dass die Bürgerlichen als Wahlkämpfer eher so wirken wie Sozialarbeiter, die einen zu einer neuen Form des begleiteten Wohnens überreden wollen, habe ich gestern angetönt; weitere Vertiefungen sollen folgen. Was mich aber zuerst beschäftigt, sind die Folgen der missratenen Zürcher Wahlen.
Stimmt es, was jetzt aus bürgerlicher Sicht zu befürchten steht, dass nämlich der Kanton Zürich im Frühling vorwegnimmt, was sich im Herbst in der Eidgenossenschaft zuträgt?
SRF hat zu diesem Thema eine aufschlussreiche Statistik veröffentlicht, die diese Frage eindeutig beantwortet:
- In den letzten zwanzig Jahren, seit 2003, hat jede Partei, die in Zürich zugelegt hatte, auch im Herbst zugelegt
- Und umgekehrt: Wer in Zürich einbrach, den traf auch im Bund eine Niederlage
- Wenn etwa die SVP im Kanton Zürich gewann, dann gewann sie auch bei den Nationalratswahlen, allein das Ausmass unterschied sich hin und wieder, nie der Trend
Nur ein einziges Mal traf das nicht zu: 2011 wuchsen die Grünen in Zürich um 0,1 Prozent, um nachher im Bund 1,2 Prozent einzubüssen. Das war die Ausnahme, die die Regel bestätigte. Sie gilt:
- für alle massgebenden Parteien: SVP, SP, FDP, CVP (Mitte), Grüne oder GLP (ab 2011)
- Und in sämtlichen eidgenössischen Wahljahren: 2003, 2007, 2011, 2015, 2019
Mit anderen Worten, im Herbst dürfte die Linke, insbesondere die Grünen, etwas zurückfallen, aber nur im Globuli-Ausmass, wobei vor allem die SP sich passabel hält, – wogegen die Bürgerlichen so desaströs abschneiden wie am letzten Sonntag in Zürich, ohne dass sie es allerdings spüren, weil ihnen linke Journalisten und Politologen einreden, sie hätten gewonnen (der Tages-Anzeiger bezeichnete die SVP allen Ernstes als «Siegerin»).
Nein, im Herbst wiederholt sich die Tragödie, die im Frühling in Zürich die Generalprobe erfuhr:
- Die SVP klebt sich fest
- Die FDP friert ein
- Die Mitte geht lahm
Wenn man wie ich gerne über Politik schreibt, sind das zugegebenermassen trostlose Aussichten – und es mag daran liegen, dass die Schweiz noch selten einen grossen politischen Denker des Auslands dazu verleitet hat, sich um sie zu kümmern: Zu fein sind die politischen Erschütterungen, als dass man sie als Erdbeben zu erkennen vermöchte, wie das uns Einheimischen mit viel gutem Willen gelingt:
- Am besten verstand die Schweiz noch Machiavelli, der sarkastische florentinische Realist, auch einer der besten politischen Philosophen überhaupt. Wer die alte Eidgenossenschaft begreifen will, liest mit Gewinn Machiavelli
- Marx gratulierte uns zwar zum Sieg im Sonderbundskrieg. Und sprach anerkennend von der «Revolution» in den Bergen. Dann fiel ihm aber nichts mehr ein – wie den meisten deutschen Intellektuellen seither, die die Eidgenossenschaft nie durchschauen – und selten schätzen
- Auch die Amerikaner haben leider jedes Interesse verloren. Das war nicht immer so. Die Gründerväter im 18. Jahrhundert hatten die Eidgenossenschaft noch mit Bewunderung studiert – zumal es damals nur zwei seriöse Republiken gab, an denen sie sich ein Vorbild nehmen konnten (Venedig und die Schweiz). Heute schätzt man uns zwar nach wie vor – aber weiss nicht, warum
Selbstverständlich liegen diese Ausländer alle falsch. Es gibt kaum ein Land auf der Welt, das politisch so interessant ist wie das unsrige, und ich sage das nicht, weil ich davon lebe, sondern weil ich es weiss. Kein Land ist politischer:
- Die Schweiz ist die älteste, noch bestehende Republik der Welt (OK, abgesehen von San Marino). Je nach Standpunkt leben wir seit über 700 Jahren als Republikaner
- Die Schweiz gibt es nur wegen der Politik «Wir wollen Schweizer sein!», riefen die süddeutschen Bauern, als sie sich während des Bauernkrieges Anfang des 16. Jahrhunderts gegen ihre Fürsten erhoben. Nicht weil Schweizer ein «ethnisches» oder «nationales» Konzept gewesen wäre – für «deutsch» hielten sich seinerzeit noch beide: Eidgenossen wie Süddeutsche – sondern, weil es ein politisches Konzept war: Hier regierten sich die Bauern und Bürger selbst – ohne Fürsten, ohne Kaiser und König. Das strebten auch die süddeutschen Bauern an – bis man sie massakrierte
- Das heisst: Wir sind uns seit jeher gewohnt, über Politik öffentlich zu verhandeln, und es waren immer viel, viel mehr Bürger berechtigt, sich daran zu beteiligen als überall sonst (trotz verspäteter Einführung des Frauenstimmrechts)
Brigitte Bardot bei der Rettung einer Robbe, 1977. (Später kam das Gerücht auf, es habe sich bei diesem Robben-Baby um ein ausgestopftes Tier gehandelt.)
Umso schändlicher scheint mir, wie sich die Bürgerlichen aus dem politischen Kampf zurückgezogen haben.
Wenn es laut wird, verstummen sie. Wenn es kracht, suchen sie nach der Ambulanz. Wenn die Linke sie angreift, werben sie um Verständnis – für die Linken, als wären diese noch immer die lustigen Leute mit den langen Haaren, die lustige Ideen haben, die umzusetzen, früher niemand auf die Idee gekommen wäre, weil deren Folgen weniger lustig waren, wie man in bürgerlichen Kreisen wusste.
Heute weiss man es noch immer – sagt es aber nicht mehr.
Wollen FDP und SVP das Naturgesetz umstürzen, wonach in Bern verliert, wer in Zürich schon verloren hat, dann müssen sie anfangen, Politik zu machen. Und das hat mit Reden zu tun, und zwar so deutsch und deutlich, dass alle es verstehen.
Falls nicht, halten sie sich vielleicht besser an Brigitte Bardot, die grosse französische Schauspielerin, die ohnehin lieber ein Tier zum Präsidenten gewählt hätte als einen Menschen:
«Ich bin völlig unpolitisch. Die Politik ist ein schmutziges Geschäft, von dem ich mich fernhalte.»
Ich wünsche Ihnen einen anregenden Tag
Markus Somm
P.S. Zahlreiche Leser haben gestern einen «Zahlensalat» moniert. Zu Recht. Ich habe wiederholt 2015 geschrieben, wo es 2019 hätte heissen müssen. Natürlich meinte ich die letzten Wahlen von 2019. Wenn man einen Fehler macht, dann aber richtig. Ich entschuldige mich für das Versehen.