Wasserkraft stopft die Winterstromlücke nicht – Schlumpfs Grafik, Folge 32
Die Wasserkraft beschert der Schweiz ein Winterstrom-Problem: Staumauer der Grand-Dixence im Wallis. Bild: Keystone
Unsere Energieministerin bezeichnet die Wasserkraft als Rückgrat der Stromversorgung. Das ist richtig, wenn man darauf schaut, wer am meisten Strom erzeugt. Es sieht aber anders aus, wenn man die Versorgungssicherheit im Blick hat. Da zeigt der Wasserstrom ähnliche Schwächen wie der Wind- und Solarstrom: Alle erneuerbaren Quellen leiden darunter, dass sie nicht steuerbar sind.
Was bedeutet das bei den Wasserkraftwerken?
Jahresstatistiken führen in die Irre
Wie immer, wenn man sich mit dem Stromertrag aus Erneuerbaren auseinandersetzt, muss man daran denken, dass Jahreserträge «lügen»: Sie erwecken den Eindruck, dass dieser Strom kontinuierlich und in konstanten Mengen fliesst. Wir wissen aber, dass dies nicht der Fall ist, und doch tappen wir immer wieder in diese Falle und lassen uns von Jahreszahlen verwirren.
Um also ein zuverlässiges Datenmaterial für meine Analyse zu haben, verwende ich eine Statistik mit Monatsdaten. Diese findet sich beim Bundesamt für Energie (BFE) in der Zusammenstellung «Schweizerische Elektrizitätsbilanz – Monatswerte» (siehe hier). Darauf beruht die folgende Grafik, die die monatlichen Stromerträge aus den Wasserkraftwerken, kombiniert mit dem jeweiligen Endverbrauch, für die Zeitperiode von 2005 bis 2020, darstellt.
Quelle: Bundesamt für Energie / Martin Schlumpf
Schauen wir zuerst, was die Schweiz an Strom benötigt. Die grau gestrichelte Kurve oben stellt den monatlichen Endverbrauch dar, nach Abzug aller Verluste. Jedes Jahr zeigt immer denselben Verlauf: Von Spitzenwerten im Januar sinkt der Bedarf bis Mitte Sommer auf den Tiefpunkt und steigt danach wieder an.
Die Erzeugung aus Wasserkraft ist konträr zum Verbrauch
Ganz anders die Stromproduktion der Wasserkraftwerke: Hier zeigen die vier Wintermonate November bis Februar die geringste Erzeugung, während die Spitzen in der Sommermitte liegen. Zudem ist diese Kurve deutlich unregelmässiger, und die Schwankungsausschläge sind grösser, das heisst, die Ertragserwartungen sind insgesamt unsicherer und weniger vorhersehbar.
Die Antwort auf die Frage «Wie gut erfüllt die Wasserkraft die Bedürfnisse der Stromkundschaft?» ist also ernüchternd: Den unterschiedlichen Konsumbedürfnissen wird nicht Rechnung getragen. Ganz im Gegenteil: Die beiden Kurven sind die ganze Zeit gegenläufig. Immer wenn wir mehr benötigen, liefern die Wasserkraftwerke weniger, und umgekehrt. Und es lässt sich auch nicht voraussagen, wie gross die Differenzen werden.
Im schlimmsten Fall sind nur 34 Prozent gedeckt
Besonders kritisch ist die Situation um den Jahreswechsel herum, wenn der Bedarf am schlechtesten gedeckt ist. Deshalb ist der Input der Wasserkraft hauptsächlich dafür verantwortlich, dass wir ein Winterstromproblem haben. Das sieht man aber nur, wenn man mindestens die Monatswerte in Betracht zieht. Wie die Grafik zeigt, kann der Stromanteil der Wasserkraft am Verbrauch in einem Wintermonat bis auf 34 Prozent sinken. Das war im Januar 2006 und im Februar 2017 der Fall. In der Jahresgesamtrechnung lag der entsprechende Anteil in diesen Jahren aber bei 57 respektive 63 Prozent. Das zeigt, wie Jahresabrechnungen in die Irre führen können.
Weil Schweizer Wasserstrom aber nicht überall auf die gleiche Weise erzeugt wird, müssen wir die Wasserkraftwerke in Gruppen einteilen. Dabei geht es in erster Linie um die Unterscheidung von Lauf- und Speicherwerken. Ein Laufwerk liegt an einem Fluss und «verarbeitet» den natürlichen Zufluss des Wassers. Dagegen benötigt ein Speicherwerk eine Staumauer, die natürlich zufliessendes oder zugepumptes Wasser in einem See fasst. Die Wasserenergie kann hier also gespeichert und zu einem späteren Zeitpunkt gezielt wieder in Strom verwandelt werden.
Die «Statistik der Wasserkraftanlagen der Schweiz (WASTA)» des BFE (siehe hier) macht Angaben über die mittlere Produktionserwartung der verschiedenen Werke, Stand 1. Januar 2021. Danach wird der Schweizer Wasserstrom zu knapp 49 Prozent in Laufwerken und zu 47 Prozent in Speicherwerken erzeugt. Die restlichen gut 4 Prozent stammen aus Pumpspeicherwerken, auf die ich in meinem nächsten Beitrag eingehen werde.
Die Laufwerke bringen im Winter nur 35 Prozent
Entscheidend ist nun, dass wir die Produktionserwartungen für den Winter und den Sommer getrennt anschauen. Dabei muss aber in Erinnerung bleiben, wie volatil die Wassererzeugung grundsätzlich ist. Beim Total der 677 Wasserkraftzentralen liegt der Stromanteil, der im Winter produziert werden kann, bei durchschnittlich 42 Prozent (das ist das Resultat aus der blauen Kurve der Grafik).
Bei den 577 Laufwerken allein, die keine Einflussmöglichkeiten auf die natürlichen Zuflüsse haben, ist der geschätzte Winteranteil aber nur 35 Prozent. Ohne Speicher- und Pumpspeicherwerke wäre das Schweizer Wasserkraftsystem also noch sommerlastiger – so eben, wie es die Natur vorgibt.
Nur mit den 86 Speicherkraftwerken allein ist es möglich, einen durchschnittlichen Winteranteil von 46 Prozent zu erreichen, und damit das Gesamttotal auf 42 Prozent zu heben. Wohlverstanden: Dies geschieht nicht, indem irgendwo mehr Leistung installiert wird, sondern ausschliesslich dadurch, dass das Energiepotenzial des Wassers durch die Speicherung in den Stauseen nicht schon im Sommer, sondern erst im Winter zum Einsatz kommt. Diesen zeitlichen Verlauf des Füllstandes der Speicherseen zeigt die folgende Grafik des BFE (siehe hier):
Quelle: Bundesamt für Energie
Aus Speicherseen können im Winter maximal 7200 Gigawattstunden gewonnen werden
In dieser Grafik sind die aufaddierten Wochendaten der Füllstände aller Speicherseen in Jahreskurven seit 2013 zu sehen. «Voll», das heisst zwischen 80 und 90 Prozent, sind die Speicherbecken im September, «leer», das heisst zwischen 10 und 20 Prozent, sind sie im April. Unter Berücksichtigung der technischen Restriktionen kann der totale Speicherinhalt von 8865 Gigawattstunden zu etwa 80 Prozent genutzt werden. Damit kann die Winterstromerzeugung um maximal etwa 7200 Gigawattstunden erhöht werden – das entspricht etwa einem Achtel des Verbrauchs.
Dieses Speicherpotenzial wird aber selbstverständlich jedes Jahr bereits genutzt (siehe Grafik), die Anlagen sind ja gebaut. Ohne Vergrösserung der Wassermassen in den Speicherbecken, sprich ohne Erhöhung oder Neubau von Staumauern oder von Kraftwerken, ist das Gesamtstrompotenzial für den Winter nicht zu erhöhen.
Gefährliche Mangellage bereits im Februar 2017
Hat nicht Bundesrätin Sommaruga soeben von einer Winterreserve mit Speicherkraftwerken gesprochen? Ja, das hat sie – aber damit ist eben nicht eine Leistungssteigerung gemeint, sondern ein für die Versorgungssicherheit besseres Timing. Warum das wichtig ist, lässt sich abschliessend in dieser Grafik mit der Jahreskurve von 2017 zeigen.
Die hellblaue Kurve für 2017 beginnt am Jahresanfang bei 50 Prozent, bereits vergleichsweise tief. Eine längere Frostperiode kombiniert mit eingeschränkter Erzeugung aus Kernkraftwerken hat im Januar zu einer extremen Beanspruchung der Speicherkraftwerke geführt, wodurch die Füllstandskurve bis Anfang Februar auf Rekordtiefstände gefallen ist. Das wiederum hatte zur Folge, dass im Februar der Ertrag aus den Wasserkraftwerken so tief war wie nie zuvor (was in der ersten Grafik sichtbar ist). «Gerettet» wurden wir damals nur durch maximal hohe Importe aus Deutschland und Frankreich.
Der Bundesrat schlägt nun wie gesagt vor, die Betreiber der Speicherkraftwerke zu einer bestimmten Minimalmenge als Reserve zu verpflichten, die sie bis Ende Winter in Bereitschaft halten müssen. Dies hätte aber die kritische Situation im Winter 2017 nicht verhindert, denn damals konnten wir mit unseren Werken schlicht viel zu wenig Strom produzieren. Das bestätigt die Importstatistik: Im Winter 2016/2017 mussten wir mehr als doppelt soviel Strom einführen als im langjährigen Durchschnitt.