Somms Memo
Was macht den Menschen aus? Dass er weiss, dass er nichts weiss. Er ist ein Meister der Dummheit, er ist ein Virtuose des Lernens.
James Cook (1728–1779), Seefahrer, Erforscher von Australien, Bahnbrecher des Sauerkrauts.
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Die Fakten: Seit Millionen von Jahren gibt es die Hominiden, die menschenartigen Affen, seit gut
300 000 Jahren den Menschen. Niemand war erfolgreicher.
Warum das wichtig ist: Wenn Forscher den Aufstieg des Menschen ergründen, stellen sie fest: Er ist intelligenter als andere. So intelligent, dass er auch weiss, wenn er nichts weiss.
Als James Cook, der grosse britische Seefahrer, im Jahr 1768 in die Südsee aufbrach, wusste er nicht so genau, was ihn erwartete:
- In einem geheimen Brief, den er erst nach einigen Wochen öffnen durfte, hatte ihm die britische Admiralität aufgetragen, diesen grossen südlichen Kontinent zu suchen, von dem man wusste, dass es ihn gab, aber nicht sehr viel mehr: Terra Australis incognita, nannte man ihn, auf Lateinisch: das unbekannte Land im Süden. War es eine Fata Morgana oder konnte man dort leben?
- Was Cook allerdings wusste: Auf einer so langen Reise fehlte es oft an frischen Früchten und Gemüse – und somit an Vitamin C. Das war gefährlicher als alle Eingeborenen, auf die man in der Südsee womöglich traf
Zwar braucht der Mensch nicht viel Vitamin C pro Tag, aber er braucht es. Nimmt er es nicht regelmässig zu sich, treten zuerst scheinbar harmlose Beschwerden auf
- das Zahnfleisch beginnt zu bluten
- Man fühlt sich schlapp
- Und kleine Wunden verheilen nur schlecht
- Irgendwann fangen die Zähne an zu wackeln, bald fallen sie aus
- Jetzt tritt hohes Fieber auf, Schwindel und Durchfall, der nie mehr aufhört
- Schliesslich stirbt man
Skorbut hiess diese Plage, eine Vitaminmangelkrankheit, die zu jener Zeit die europäischen Seefahrer vor ein schier unlösbares Problem stellte. Ganz genau wusste man zwar nicht Bescheid, aber klar war: Frisches Obst und Gemüse liessen sich nicht monatelang auf einem Schiff mitführen – so dass Skorbut eine der häufigsten Todesursachen auf See blieb. Die British Navy, die grösste und mächtigste Flotte der Welt, war ratlos.
James Cook, ein Aufsteiger, dessen Vater noch als Taglöhner gearbeitet hatte, ein kluger Kopf, der seine Karriere der British Navy verdankte, die nicht auf Herkunft achtete, sondern auf Leistung; James Cook, der beste Kartograf seiner Generation, war auf eine Idee gekommen:
- Warum nicht Sauerkraut essen?
- Sauerkraft weist viel Vitamin C auf – und lässt sich gut konservieren
Ein Arzt hatte ihn darauf hingewiesen, ebenso gab es bereits entsprechende Studien, die die Ursachen von Skorbut benannten. Wenn Cook dennoch zögerte, dann, weil er seine Matrosen kannte. Skeptiker, Gewohnheitstiere und Alkoholiker. Man bevorzugte Rum. Es war Cook bewusst, wie schwer es fiel, sie zu überzeugen:
- Wer ass denn schon gern Sauerkraut? (OK, ausser den Deutschen, die die Engländer auch deshalb als «Krauts» bezeichneten)
Cook durchschaute aber auch den Menschen. Also ordnete er an, dass in den ersten Wochen der Seereise ausschliesslich den Offizieren Sauerkraut serviert wurde – ohne dass den Matrosen das mitgeteilt wurde. Man hielt es so auffällig geheim, dass es sicher herauskam.
- Sobald die Matrosen davon Wind bekamen, fühlten sie sich düpiert
- Es rumorte, man beschwerte sich, es ging die Rede von einer schreienden Ungerechtigkeit
- Am Ende verlangten die Matrosen ultimativ, dass auch sie Sauerkraut bekamen
Was blieb Captain Cook da anderes übrig, als einzulenken? Von diesem Zeitpunkt an verzehrten die Matrosen jeden Tag ihr Sauerkraut, als handelte es sich um eine Götterspeise.
Die Seefahrt dauerte drei Jahre. Kein einziger Matrose erkrankte an Skorbut. Im Übrigen entdeckte man noch die Südostküste von Australien – wo Europäer tatsächlich bestens leben konnten. Ob mit täglichem Sauerkraut oder ohne.
Der amerikanische Anthropologe Joseph Henrich hat diese Geschichte erzählt, um zu illustrieren, warum der Mensch alle anderen Lebewesen im Lauf der Evolution übertroffen hat. Henrich lehrt an der Harvard Universität, und der Titel des Buches lautet: «The Secret Of Our Success». Selten habe ich etwas Klügeres gelesen, selten hat mich ein Buch mehr angeregt.
Gemäss Henrich lag der Erfolg des Menschen nicht in erster Linie an seinem zugegebenermassen grossen Hirn, also an seiner überdurchschnittlichen Intelligenz, – das auch, doch die Schimpansen sind fast genauso intelligent – vielmehr kam es darauf an, dass der Mensch wie kein anderes Tier es versteht zu lernen
- Wir sind so klug, dass wir auch wissen, wenn wir nicht klug genug sind. Wir kennen unsere Grenzen und wir wissen, wie man sie überschreitet
- Nichts treibt uns mehr an als die Aussicht, etwas Neues zu lernen – und zwar von Kindesbeinen an. Niemand lernt so gut, so viel, so gern
Das belegen Studien, wo selbst das Verhalten von Kleinkindern mit jenem von erwachsenen Schimpansen verglichen wird. Als es darum ging, Probleme zu lösen, zeigte sich, dass die Schimpansen das geradeso gut meistern wie die jungen Menschen. Wenn man aber die Fähigkeit zum Lernen mass, dann schwangen schon die Kleinkinder oben aus – geschweige denn die erwachsenen Menschen. Die Schimpansen verzweifelten, sofern sie das mitteilten.
Wenn der Mensch lernt – und er will es ohne Unterlass – dann muss er auch wissen, von wem er etwas lernen sollte. Er sucht nach Lehrmeistern, er richtet sich nach jenen Vorbildern, die – wie alle im Dorf zu sagen scheinen – mehr können:
- Oft sind das natürlich die Alten, die einfach mehr wissen, weil sie schon länger leben
- Oder die besten Jäger, was sie mit möglichst vielen Trophäen beweisen, und die deshalb viel Prestige geniessen
- Oder die erfahrensten Köchinnen, die es verstehen, wie man aus einer einst giftigen Kartoffel etwas Essbares macht
Deshalb hat sich neben der uralten Hierarchie unter den Menschen (und den Menschenaffen), die auf Dominanz beruhte, eine zweite, zutiefst menschliche Hierarchie herausgebildet: Die Hackordnung des Prestiges.
- Wer Prestige besitzt, hat es, weil alle zu ihm aufschauen – nicht, weil sie sich vor ihm fürchten, wie die Primaten vor dem Alphatier – sondern, weil sie von ihm lernen wollen. Ein Vorbild
Das nutzte Cook, um seine Matrosen vor dem Skorbut zu bewahren. Hätte er ihnen das Sauerkraut-Menu befohlen, sie hätten sich geweigert. Weil er aber die Offiziere, die eben mehr Prestige besassen, dazu brachte, Sauerkraut zu essen, erhielten die Matrosen den Eindruck: Das ist es, was man braucht, um aufzusteigen. Prestige bewirkte das Wunder – nicht Macht.
Niemand wusste, dass Sauerkraut viel Vitamin C aufwies – und deshalb Leben rettete. Niemand schätzte es. Bis Cook ein Geheimnis daraus machte.
Oder wie es Charles de Gaulle, der grosse französische Staatsmann, formulierte:
«Es kann kein Prestige ohne Geheimnis geben. Wenn etwas vertraut ist, dann erzeugt es nur Verachtung.»
Ich wünsche Ihnen ein geruhsames Wochenende
Markus Somm
P.S. Das ist für zwei Wochen das letzte Memo. Ich fahre in die Ferien in den Bergen. Ich gönne Ihnen eine gute Zeit und bedanke mich für Ihre Treue.