Somms Memo

Warum ist die Romandie so links? Anmerkungen zu einer Irritation

image 30. September 2022 um 10:00
Der Genfersee, eine der schönsten – und linksten – Gegenden der Welt.
Der Genfersee, eine der schönsten – und linksten – Gegenden der Welt.
Die Fakten: Die Westschweiz hat am letzten Sonntag die AHV-Vorlagen mit deutlichen Mehrheiten verworfen.

Warum das wichtig ist: Die Romandie ist seit langem eine Hochburg der Linken. Das war nicht immer so. Noch in den 1970er Jahren herrschten die Bürgerlichen unbestritten. Was ist geschehen?


Es genügen wenige Zahlen, um die Weite des roten Meeres zu ermessen:
  • In Genf sagen 62,8 Prozent Nein zu einem höheren Rentenalter für die Frauen
  • Im Jura, einem linken Ausreisser fast immer, sind es gar 70,9 Prozent
  • Und selbst in der sonst leicht bürgerlicheren Waadt sind es 62,1 Prozent

Kein welscher Kanton hat das gleiche Rentenalter für Mann und Frau angenommen, und selbst die leicht erhöhte Mehrwertsteuer für die AHV stiess allein im Wallis auf Gnade, wobei auch dieses Ergebnis nur zustande kam, weil das deutschsprachige Oberwallis eine überdurchschnittliche Zahl von Ja-Stimmen beisteuerte (58,4 Prozent Ja). Wäre es nach dem französischsprachigen Unterwallis und Mittelwallis gegangen – die Vorlage wäre auch im Wallis in der roten Rhone versenkt worden.
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Woran liegt das? Warum stimmen die Welschen so links? Fragen sich manche Deutschschweizer Bürgerliche – mit zunehmender Irritation und Verzweiflung. Tatsächlich ist dieses rote Meer für die Bürgerlichen eine Art Bermudadreieck. Sie fahren hinein – und kommen nie mehr zurück:
  • Für die SVP, im Wesentlichen eine Deutschschweizer Widerstandorganisation, war das Welschland schon immer ein unwirtliches Gebiet, als handelte es sich um das Innere Kasachstans: exotisch, fremdsprachig, unbegreiflich
  • Die CVP, heute die Mitte, sah sich hier genauso ausserstande, ihren säkularen Niedergang aufzuhalten, was doppelt schmerzt – zumal die CVP früher in zwei Westschweizer Kantonen schaltete und waltete, als wäre dort nie die Demokratie eingeführt worden (Wallis und Freiburg)
  • Und dem Freisinn hat vielleicht nichts so zugesetzt wie der Sog nach links, dem die welschen Parteikollegen nachgaben, ohne je zu merken, wie sie dem Rausch der Tiefe erlagen

Manche bürgerlichen Beobachter in der deutschen Schweiz geben den Franzosen die Schuld. Sind die Franzosen nicht ohnehin viel linker, etatistischer und zentralistischer, was auch die Welschen prägen muss? Etatismus sozusagen als frankophone DNA, ein Schicksal also, dem man sich nicht entziehen kann?
Mumpitz.
  1. Gehörte die Westschweiz nie zu Frankreich – sondern zuerst zum Königreich Burgund, dann in weiten Teilen zu Savoyen, bevor es in der Eidgenossenschaft aufging
  2. War auch Frankreich keineswegs immer so etatistisch, wie uns das heute fast selbstverständlich vorkommt. Im Gegenteil, das Land war jahrhundertelang eine Festung der liberalen und kapitalistischen Bourgeoisie – wie kaum sonstwo in Europa. Bis der Zweite Weltkrieg das Land auch politisch auf Dauer zerstörte
  3. Herrschte auch in der Romandie das Bürgertum für lange, lange Zeit unangefochten. Zwar erwies sich die Linke, besonders in den Städten Lausanne, Genf oder La-Chaux-de-Fonds, als ein mächtiger Rivale, doch das Land und die kleinen Städte waren stockbürgerlich, genauer: liberal-konservativ

Als 1969 mit Pierre Graber zum ersten Mal ein welscher Sozialdemokrat in den Bundesrat gewählt werden sollte, wehrten sich die Bürgerlichen im Welschland gegen seine Kandidatur.
Warum?
Die Romandie galt als bürgerlich, bürgerlich und noch einmal bürgerlich. Nie sollte ein Linker diese Sprachregion in der Landesregierung vertreten dürfen. FDP, Liberale und CVP taten alles, um Grabers Wahl zu hintertreiben – wenn sie am Ende auch scheiterten, weil ihre Kollegen in der deutschen Schweiz kein Verständnis für diese monopolistischen Ansprüche aufbrachten. Vielleicht war das ein Fehler.
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Seither hat sich die Romandie von einer Festung der Bürgerlichen zu einer Zitadelle der SP gewandelt. Wenn ich über die Ursachen nachdenke, dann fallen mir drei Entwicklungen auf:
  • Die Westschweiz ist wirtschaftlich nach wie vor sehr erfolgreich, besonders der Genferseebogen, was sich auch an sprudelnden Steuereinnahmen ablesen lässt. Wer meint, die Romands wählten links, weil sie wie die Schotten vom Sozialstaat zu strukturellen Linken umgeformt worden sind – durch Transferzahlungen aus dem englischen Süden –, der irrt sich. Genf etwa ist ein Nettozahler im Finanzausgleich
  • Was aber ins Auge fällt: Zu den besten Steuerzahlern gehören Multinationals oder Firmen wie Nestlé, die längst vollständig internationalisiert sind, was ihr Management und ihre Aktionäre anbelangt. Das schwächt die Bürgerlichen. Es gibt kaum mehr einen Konzernchef, der Schweizer wäre und sich um die eidgenössische Politik kümmerte. Wir kennen diesen Missstand in der deutschen Schweiz ebenso, doch, so mein Eindruck, die Entwicklung ist in der Romandie weiter fortgeschritten
  • Die Europa-Frage hat die Bürgerlichen in der Romandie ideologisch ruiniert. Als Minderheit standen sie einem EU-Beitritt viel positiver gegenüber. Sie erhofften sich wohl in Brüssel ein Gegengewicht zu Bern. Nur so ist zu erklären, dass die einstigen Erzföderalisten, was die welschen Bürgerlichen stets waren, plötzlich einer Zentralisierung auf europäischer Ebene das Wort redeten. Als sich dieser Traum zerschlug – unter anderem wegen der deutschschweizerischen SVP – blieben die Bürgerlichen wie deroutiert

Sie haben sich mit anderen Worten vom EU-Beitritt nie mehr erholt. Wie schwierig, wie traurig ist das Leben im Bermudadreieck? Vielleicht gibt der grosse Schweizer Schriftsteller Denis de Rougemont etwas Trost:
«Der Niedergang beginnt dann, wenn man sich fragt: was geschieht mit
uns, anstatt zu fragen, was können wir tun

Ich wünsche Ihnen ein wunderbares Wochenende Markus Somm

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