Warum Geissenpeter keine Angst vor Wolf und Bär hatte
23. Mai 2023 um 07:00
Corne (Santiago Cornejo)
Im Trentiner Val di Sole, nahe der Schweizer Grenze, hat ein Bär den Jogger Andrea P. getötet – ein Zwischenfall mit Ansage. Denn dieselbe Bärin hatte schon vor drei Jahren einen Vater mit seinem Sohn angegriffen. Beide entkamen der Attacke nur mit viel Glück. Im Trentino hausen inzwischen rund 120 Bären, Tendenz steigend. Sie entstammen jener Gruppe von Bären, die vor einem Vierteljahrhundert aus Slowenien angesiedelt wurden mit dem Ziel, eine stabile Bärenpopulation von etwa 50 Exemplaren zu erreichen. Jetzt haben die grünen Zauberlehrlinge ihr Ziel übererfüllt. Und sinnen danach, dem Bärenreichtum durch den Export von etwa 70 Stück abzuhelfen. Die Schweiz, Österreich und Bayern, wo einige von ihnen schon unliebsam aufgefallen sind (und als Problembären erschossen wurden), kommen wohl als Asylländer eher nicht in Frage. Immerhin haben Tierrechtsaktivisten das Recht auf Asyl für Bären ja noch nicht erstritten …
Wie haben eigentlich Johanna Spyris Heidi, der mutige Geissenpeter oder gar der Alpöhi auf die Begegnung mit einem Bären oder Wolf reagiert? Die Antwort heisst: gar nicht. Bären gab es Mitte des 19. Jahrhunderts bei uns ebenso wenig wie Wölfe, Steinböcke oder Steinadler, und auch Hirsche waren eher selten anzutreffen. Alle ausgestorben, gejagt und erlegt von den damaligen Alpenbewohnern, welche die Übergriffe der Wildtiere auf ihre Kühe, Schafe und Geissen ganz und gar nicht schätzten. Die Räuber wurden gehasst und dämonisiert, wie man etwa den Märchen der Brüder Grimm (gesammelt ebenfalls im 19. Jahrhundert) entnehmen kann.
Geissenpeter musste also keine Angst haben um seine Schützlinge. Ein Hund war, wenn ich mich recht erinnere, deshalb auch nicht dabei. Erst im beginnenden 20. Jahrhundert drehte der Wind. So entstand in St. Gallen der Wildpark Peter und Paul mit zwei aus Italien geschmuggelten Steinkitzen, deren Nachkommen bald im Weisstannental ausgesetzt wurden. Steinböcke waren vorher schon lange ausgestorben – schwer vorstellbar angesichts der heutigen Population von 17 000 Exemplaren!
In den Sechziger- und Siebzigerjahren war jedem umweltbewussten Menschen ohnehin klar, dass die Welt der Tiere und Pflanzen demnächst untergehen werde: «Es gibt keine Maikäfer mehr», sang Reinhard May, und verschwunden waren auch Störche, Biber und Fledermäuse – viele davon sind aber inzwischen wieder aufgetaucht. Vom Wald, der angeblich gestorben ist, stattdessen aber allein in der Schweiz jährlich um die Fläche des Bielersees wächst, nicht zu reden.
Das alles ist kein Plädoyer für die mutwillige Zerstörung unserer Umwelt. Höchstens eines gegen die Selbstüberschätzung von Menschen, die glauben, die Natur mit Import und Export von Tierarten in die richtige Richtung steuern zu können. Oder das Ende der Welt gekommen sehen und sich in massloser Hybris als «letzte Generation» bezeichnen. Man sollte diese Protestler vielleicht einmal zu den Bauern des Val di Sole schicken. Sie müssten damit rechnen, dass ihnen eine geklebt wird. Und zwar nicht auf den Boden.