Somms Memo
Warum die Schweiz zugebaut wird. Neue Zahlen und neue Fakten
Verdichtung in der dichtbesiedelten Schweiz. Baustelle.
Die Fakten: Vier von fünf Wohnungen wurden in den letzten 20 Jahren wegen des Bevölkerungswachstums gebaut.
Warum das wichtig ist: Die «Wohnungsnot» ist hausgemacht: Sie rührt nicht daher, dass wir zu wenig bauen, sondern dass zu viele Menschen zuwandern.
Wer dem Zürichsee entlang fährt, wie ich jeden Tag, dem muss es auffallen: Es wird überall gebaut und verdichtet, bis eine der einst schönsten Kulturlandschaften der Welt aussieht wie Hong Kong am Alpenrand:
- Nichts gegen Hong Kong
- Nichts gegen Verdichtung
- Auch nichts gegen Zuwanderung
Aber alles hat sein Mass – und wenn wir schon in der Schweiz leben, der Hochburg des Massvollen, der Zitadelle der Goldenen Mitte, dann müssen wir jetzt einmal über die fortschreitende Zubetonierung und umfassende Asphaltierung unseres Landes reden.
- Wollen wir denn in Hong Kong leben? (OK, unsere Demokratie würde nicht sinefiziert, wie der Fachbegriff für chinesische Verhältnisse heisst)
- Aber eine 10-Millionen-Schweiz steht meines Wissens noch nicht in der Bundesverfassung
Würden wir heute darüber abstimmen, es gäbe keine Mehrheit für dieses Ziel – gerade, weil wir Schweizer mit einer gewissen Sentimentalität an der kleinräumigen, übersichtlichen, blitzblank geputzten Landschaft unserer Heimat hängen.
- 2001 lebten in der Schweiz 7,23 Millionen Menschen
- 2022 waren es 8,8 Millionen
- Das sind rund 1,5 Millionen mehr
Irgendwo müssen diese vielen Menschen untergebracht werden. Selbstverständlich hat das den Druck auf den Wohnungsmarkt erhöht, und niemanden kann es wirklich überraschen, dass die Mieten steigen – zumal Angebot und Nachfrage auseinandergehen. Wenn da und dort über «Wohnungsnot» geklagt wird, und man sich fragt, warum es denn so weit gekommen ist, dann ist das ein No-Brainer.
- 1,5 Millionen mehr Einwohner lautet die Erklärung. Dazu bedarf es keiner Rocket Science
Weil aber die Zuwanderung für anständige Menschen ein Tabu ist, besonders wenn es sich um Politiker handelt, die nicht der SVP angehören, wird nach allerlei Ursachen geforscht, die weniger toxisch wirken.
- Das erinnert an einen Arzt, der weiss, dass sein Patient es nicht gerne hört, wenn er ihm die Wahrheit sagt: «Nein, Sie haben nicht das Bein gebrochen, sondern ihr Nachbar ist die Treppe hinuntergefallen.» Und dann wird der Gips montiert.
Der Ausflüchte sind viele:
- Wer bürgerlich ist (FDP, Mitte), sagt: Es wird einfach zu wenig gebaut, weil die Vorschriften so irrsinnig sind (was stimmt)
- Wer links steht, sagt: Jeder von uns beansprucht immer mehr Wohnfläche. Wenn wir unter Wohnungsnot leiden, dann liegt es an unseren überzogenen Wohnbedürfnissen. Luxus, Kapitalismus, Konsumgesellschaft: die üblichen Verdächtigen also
Die Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen etwas anderes.
Zwar trifft zu, dass wir immer mehr Wohnfläche pro Kopf verbrauchen. Doch das ist nur ein Faktor. Übers Ganze betrachtet dehnt sich die nötige Wohnfläche vor allem wegen der Zuwanderung aus:
- 21 Prozent des Wachstums lässt sich auf unsere gestiegenen Wohnansprüche zurückführen
- 79 Prozent aber sind durch die Bevölkerungszunahme verursacht worden
Kurz, wenn wir in den vergangenen zwanzig Jahren fünf Wohnungen errichteten, dann benötigten wir vier davon, um die vielen Zuwanderer aufzunehmen.
Eine einzige Wohnung leisteten wir uns, weil wir etwas mehr Platz wünschten – fürs Laufband vielleicht oder die Freundin des Sohnes, die mit ihrer Katze eingezogen ist.
Dass wir in geräumigeren Wohnungen und Häusern leben, und jeder von uns nach noch mehr Privatsphäre verlangt – wer möchte das bestreiten? Wer aber will darauf verzichten?
Es ist ein Zeichen des Wohlstands und es liegt auch daran, dass zusehends mehr Menschen alleine leben oder in komplexen Arrangements: Man lässt sich scheiden, man bildet Patchwork-Familien, wo die Kinder die halbe Woche bei der Mutter verbringen und die andere beim Vater, oft verlassen die Kinder auch früher ihre Familien, manche Paare ziehen es vor, getrennt zu leben, auch wenn sie es bestens haben. Fest steht: Das alles steigert die Raumbedürfnisse
- Es sind gesellschaftliche Entwicklungen, die die meisten (auch ich) für unumkehrbar halten
Allerdings – und das widerlegt das Argument der Wohnflächendekadenz – hat sich diese Steigerung in den jüngsten Jahren wesentlich abgeflacht. Das relevante Wachstum fand vorher statt:
- Von 1980 bis 2000 nahmen die individuellen Raumansprüche noch deutlich zu: insgesamt bewohnte jeder nach zwanzig Jahren 10 m2 mehr als zuvor, was einer Erhöhung von fast 30 Prozent entsprach
- Von 2000 bis 2021 kamen bloss 2,6 m2 pro Kopf dazu, in Prozenten: 5,9 Prozent
Schliesslich stimmt es auch nicht, dass wir so viel weniger gebaut haben als früher – und deshalb jetzt unter Wohnungsnot ächzen. Das Gegenteil ist wahr:
- Im Jahr 2001 entstanden in der Schweiz insgesamt 28 873 Wohnungen
- 2020 waren es 49 314, das ist eine Zunahme von 71 Prozent
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Nichts hat den Bedarf an Wohnungen und Häusern mehr gesteigert als die Tatsache, dass immer mehr Menschen in der Schweiz leben möchten.
Das ist schmeichelhaft für uns – aber wenn wir uns schon schmeicheln lassen, dann sollten wir uns auch eingestehen, warum. Und zu welchem Preis.
Ob das Ziel, Hong Kong nachzustreben, wirklich in die Verfassung gehört, ist eine andere Frage. Wir sollten bald darüber abstimmen, bevor auch noch das Rütli verdichtet wird.
Oder um es mit James Carville, dem ehemaligen Berater von Bill Clinton, zu sagen, wenn auch etwas abgewandelt:
- «It’s the immigration, stupid»
Ich wünsche Ihnen einen wundervollen Tag
Markus Somm