Somms Memo

Vor 90 Jahren gelangte Hitler an die Macht. Warum?

image 30. Januar 2023 um 11:00
Adolf Hitler (1889-1945), Reichskanzler und Massenmörder.
Adolf Hitler (1889-1945), Reichskanzler und Massenmörder.
Die Fakten: Vor 90 Jahren, am 30. Januar 1933, wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Das «Dritte Reich» zog herauf, Deutschland verkam zur Diktatur. Warum das wichtig ist: Es handelt sich vielleicht um den schwärzesten Tag der Weltgeschichte. Die Folgen sind noch heute mit uns. Harry Graf Kessler, ein deutscher Kunstsammler, Dandy und Autor, schrieb am 30. Januar 1933 in sein Tagebuch: «Berlin ist heute Nacht in einer reinen Faschingsstimmung. SA- und SS-Trupps sowie uniformierter Stahlhelm durchziehen die Strassen, auf den Bürgersteigen stauen sich die Zuschauer. Im und um den ‹Kaiserhof› [ein Hotel, wo Hitler wohnte] tobte ein wahrer Karneval». Fasching, Karneval. Unterschätzte der Graf womöglich die Tragweite dieses Tages? Ja und nein, denn wenn man Zeitgenossen wie Kessler liest, die diese schlimme Epoche erlebt haben, fällt oft auf, wie lange sie schon befürchtet hatten, was an diesem Montag im Januar geschah. Hitlers Aufstieg erfolgte zwar rasch, und doch so grell und lärmig, dass niemand daran zweifeln konnte, wohin er Deutschland führen würde, wenn je an der Macht:
  • Selbst Paul von Hindenburg, der greise, wenn nicht senile Reichspräsident, sagte noch im August 1932, er könne es «vor Gott, seinem Gewissen und dem Vaterland» nicht verantworten, die Regierung einer Partei wie der NSDAP zu übertragen, die offensichtlich nicht damit umgehen könne, dass man ihr widersprach und eine andere Meinung vertrat
  • Klassendünkel war auch im Spiel: Der adlige, preussische Gutsbesitzer und Generalfeldmarschall aus dem Ersten Weltkrieg sprach bloss vom «böhmischen Gefreiten», wenn er Hitler meinte, – und wer weiss, was ein preussischer Offizier von den militärischen Fähigkeiten der österreichischen Armee hielt, ahnt, wieviel Verachtung in dieser Bezeichnung zischte

All das muss am 30. Januar 1933 vergessen gegangen sein, als Hindenburg, schlecht beraten von seinen Beratern, Hitler doch zum Reichskanzler machte – eigentlich ohne Not, denn Hitlers Partei, die NSDAP, hatte im November 1932 die letzten Reichstagswahlen verloren. Sie blieb zwar die stärkste Kraft, aber hatte empfindlich Stimmen eingebüsst.
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Der Zauber schien vorbei, die Dämonen verkrochen sich, und selbst der Teufel kam ins Sinnieren:
  • Zur Jahreswende 1932/33 klagte Hitler im vertrauten Kreis: Die Meinung der Schlaumeier, wonach man einfach stufenweise an die Macht gelange, also durch die «Hintertür», gewissermassen «aus dem Innern des Systems» heraus, stimme nicht. Er glaubte nicht mehr an einen nahen Erfolg
  • Dazu passte, wie die Frankfurter Zeitung, ein wichtiges liberales Blatt, Hitler bereits abschrieb: «Der mächtige Anschlag der Nazi-Partei auf die Demokratie ist abgewehrt».

Zu diesem Schluss kam die FZ am 1. Januar 1933. Vier Wochen später öffneten sich die Höllentore. Wenn die Journalisten der FZ die folgenden Jahre überleben sollten, dann hatten sie Glück, zumal die meisten Juden waren, alle Demokraten. Der eine floh, der andere starb im KZ, der dritte blieb. Wie kam es zu dieser Katastrophe? Es gibt kaum ein historisches Ereignis, das besser erforscht ist, Hundertausende von Autoren und Millionen von Büchern gehen dieser Frage nach, und doch bleiben wir ratlos und erschreckt. Wie konnte es geschehen, dass ein zivilisiertes, hochentwickeltes Land wie das Deutsche Reich sich einem Verbrecher auslieferte – dessen kriminelle Energie so unermesslich gross war, dass er am Ende halb Europa in Schutt und Asche legte, sein eigenes Land und Volk ruinierte und zig Millionen von Menschen umbrachte, unter anderem sechs Millionen Juden?
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Zwei Ursachen gilt es festzuhalten:
1. Der Erste Weltkrieg
Wenn ein mächtiges Land wie das damalige deutsche Kaiserreich einen Krieg verliert, ist das nicht bloss für den Verlierer schlimm, sondern paradoxerweise auch für den Sieger. Was tun mit dem Verlierer? Wie gewinnt man den Frieden? Der Sieger hat die Wahl zwischen zwei Optionen:
  • Entweder er erobert, besetzt und demütigt das Land dermassen, dass nie mehr eine Gefahr von ihm ausgeht. Womöglich teilt man es auf, was im Fall Deutschlands bedeutet hätte, dass man das Land wieder in den Zustand vor 1871 zurückversetzt hätte: ins Deutschland der vielen Fürstentümer und Königreiche, die niemandem etwas zuleide getan hatten.
  • Oder man behandelt das Land mit Nachsicht, um es mit der eigenen Niederlage zu versöhnen. Wenn das dem Sieger auch fast übermenschliche Grossherzigkeit abverlangt, so muss er sich dennoch bewusst sein: Ein Verlierer, der bloss auf Rache sinnt, zumal ein so mächtiger wie Deutschland, heisst wieder Krieg. Seit 1919 war Deutschland eine Republik. Die Alliierten hätten mit diesem demokratischen Regime einen Neuanfang wagen können.

Stattdessen haben die Alliierten, d.h. Frankreich, Grossbritannien und die USA, beides nicht getan und doch getan:
  • Zwar wurde Deutschland gedemütigt, indem man ihm Gebiete abnahm und hohe Reparationen aufbürdete – doch wurde es dabei zu wenig geschwächt, als dass das Risiko eines zweiten Krieges ausgeräumt gewesen wäre. Weil ihr Land nicht erobert und kaum besetzt worden war, kam es 1918 vielen Deutschen vor, als hätten sie den Krieg gar nicht verloren
  • Von einem Neuanfang konnte ebenso wenig die Rede sein: Vielmehr untergruben die Sieger von Beginn weg die Legitimation der Weimarer Republik, als sie ihr den Versailler Vertrag, einen sehr einseitigen Friedensvertrag, auferlegten. Aus Sicht manch eines Deutschen war nun nicht mehr der Kaiser schuld am Niedergang, was eigentlich der Fall war, sondern die republikanischen «Erfüllungspolitiker»

Für einen wie Hitler, einen Meister des Ressentiments, bedeutete diese «Unfriedensordnung» geradezu ideale Bedingungen. Das allein aber hätte wohl nicht gereicht, um ihn an die Macht zu bringen.
2. Die Weltwirtschaftskrise.
1929 kam es an der Wall Street in New York zum Börsencrash. Was bloss eine Rezession hätte zur Folge haben können, die irgendwann wieder von einem Aufschwung abgelöst worden wäre, wuchs zu einer schweren, jahrelangen Weltwirtschaftskrise heran – weil Regierungen und Zentralbanken bei der Krisenbekämpfung diverse Fehler unterliefen. Wobei auch hier gilt: Hinterher weiss man es immer besser. Jedenfalls war es eine hausgemachte Depression – mit unvorstellbar harten Folgen für die ganze Welt. Dass dabei ein Land wie das Deutsche Reich, das nach dem missratenen Krieg sich wirtschaftlich mehr schlecht als recht erholt hatte, besonders hart davon betroffen war, kann nicht überraschen, und doch war es im Nachhinein nicht der Crash von 1929, der den Deutschen das Genick brach, sondern die Schuldenkrise, die im Sommer 1931 das Land an den Rand des Bankrotts führte.
  • Verzweifelt rannten die Menschen zur Bank, um ihr Geld zu retten
  • Banken schlossen für immer ihre Schalter, weil sie ausserstande waren, das Geld auf den Sparkonti auszuzahlen
  • Das deutsche Bürgertum, einst so wohlhabend, tüchtig und zufrieden, verlor zuerst sein Vermögen, dann den Glauben an den Kapitalismus und den Liberalismus

Stattdessen wandte man sich dem Hitler zu. Dem Rächer von Versailles. Dass sie in ihm den Retter sahen, hatte nämlich auch damit zu tun, dass die Schuldenkrise mit dem Reparationsregime zusammenhing. Um die Reparationszahlungen zu leisten, aber auch um andere Schulden zurückzuzahlen, hatte sich die deutsche Regierung unter Kanzler Heinrich Brüning gezwungen gesehen, dem Land einen brutalen Austeritätskurs zu verordnen.
  • Wer als Politiker in der Krise sparen muss, gerät bald in Schwierigkeiten
  • Und wer das auf Verlangen des Auslands tut – der sprengt sich selber in die Luft

Am 30 Mai 1932 trat Brüning zurück, nachdem ihn Hindenburg hatte fallen lassen. Ein erster welthistorischer Irrtum des alten Generals, zumal Brüning kurz davor gestanden hatte, die Reparationen auf immer loszuwerden. Es folgten Neuwahlen, neue Kanzler, neue Enttäuschungen, bis wenige Monate später, am 30. Januar 1933, Hindenburg den zweiten welthistorischen Fehler beging und Hitler an die Macht verhalf. 1942, die Niederlage des «Dritten Reichs» war schon absehbar, sagte Hitler in kleinem Kreis: «Was für ein Glück für die Regierenden, dass die Menschen nicht denken!» Im Zweiten Weltkrieg, den Hitler ausgelöst hatte, starben über 60 Millionen Menschen. Ich wünsche Ihnen einen guten Wochenbeginn Markus Somm

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