Somms Memo

Umfrage: Die Schweizer möchten die Zuwanderung drosseln, ja selbst den Ausländern ist es zu viel.

image 18. April 2023 um 10:00
Rush hour im Zürcher Hauptbahnhof.
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Die Fakten: Eine Mehrheit von 62 Prozent der Schweizer möchte die Zuwanderung begrenzen. Warum das wichtig ist: Wenn selbst eine Mehrheit der GLP-Wähler so denkt, dann ist klar: Unsere Immigrationspolitik ist gescheitert. Neue Ansätze tun not. Ich habe gestern in meinem Memo dargestellt, von welch grosser Bedeutung Einwanderer in der schweizerischen Wirtschaftsgeschichte waren, nicht bloss für Zürich, das dank den Locarner Glaubensflüchtlingen schon im späten 16. Jahrhundert zu einer Zitadelle des Kapitalismus heranwuchs:
  • Auch Basel zog zur gleichen Zeit Nutzen daraus. Hier waren es vor allem Hugenotten (wie etwa die sehr erfolgreiche Familie Sarasin) oder Protestanten aus Flandern (Bernoulli), die die reformierte Stadt wirtschaftlich und kulturell voranbrachten
  • Oder Genf. Nachdem es 1535 den neuen Glauben angenommen hatte, versank es im Elend. Doch kurz darauf stieg es zu einem der überragenden Zentren der europäischen Seidenindustrie auf – dank der Aufnahme der Protestanten von Lucca in Italien, vorwiegend Seidenproduzenten, die meisten entstammten der Führungsschicht der blühenden Stadt. Weil sie zu Protestanten geworden waren, hatte sie der Papst nach allen Regeln der Kunst verfolgen lassen (Folter, Hinrichtung, Enteignung), bis ihnen nichts anderes übrig als die Flucht nach Genf. Schon bald gehörten sie hier den besten Kreisen an, ihre Namen wurden zum Inbegriff der Genfer «grandes familles» (Turrettini, Diodati, Burlamaqui, Micheli)
  • Insgesamt ist die Schweiz seit dem 16. Jahrhundert ein Einwanderungsland. Zuerst kamen die italienischen Protestanten, dann die französischen Hugenotten, im 19. Jahrhundert zahllose tüchtige Liberale aus Deutschland und Italien, im 20. Jahrhundert wieder Deutsche (und Juden, wobei wir hier versagten, leider retteten wir viel zu wenige), schliesslich tauchten abermals Deutsche auf, Italiener, Franzosen, kurz: Talente von überall her halfen mit, die Schweiz zum wohl reichsten Land der Welt zu machen

Ich erwähne das, damit niemand auf den Gedanken kommt, mir wäre nicht bewusst, wie alt und alles in allem erfreulich die Einwanderungsgeschichte der Schweiz ist. Ich feiere diese Geschichte, ich bin stolz darauf. Wer mehr wissen will, dem empfehle ich mein jüngstes Buch («Warum die Schweiz reich geworden ist», Stämpfli Bern 2022) Was aber auch stimmt: Die Schweizer, Demokraten mit den ausgedehntesten Mitspracherechten überhaupt, legten immer Wert auf eine gesteuerte Einwanderung – sehr selten konnte einfach kommen, wer wollte, unabhängig davon, was er mitbrachte oder beherrschte. Auf Ehrgeiz, Fähigkeit, auf Kapital und Arbeitsethos wurde geachtet, sowie auf die Bereitschaft, sich zum Schweizer zu verwandeln und sich den seltsamen Gebräuchen dieses super-egalitären und super-misstrauischen Volkes zu unterwerfen – darauf kam es immer an. Erst seit wenigen Jahren, seit 2002, als die Personenfreizügigkeit mit der EU eingeführt wurde, hat die Schweiz damit ihre Immigrationspolitik faktisch nach Brüssel delegiert,
  • mithin an eine ungewählte Bürokratie, an eine fremde Macht
  • was unser Land, das Einwanderungsland par excellence seit dem 16. Jahrhundert, noch nie getan hatte

Kein Wunder kommen wir nicht mehr zur Ruhe.
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Das belegt die jüngste Umfrage, die die Pendlerzeitung 20 Minuten und die Tamedia (Tages-Anzeiger etc.) Anfang Woche vorgelegt haben:
  • 62 Prozent der Schweizer möchten neuerdings die Zuwanderung beschränken. Es scheint den Menschen zu viel des Guten, wenn jedes Jahr rund 50 000 bis 80 000 Leute neu dazu stossen
  • Zweitens sticht ins Auge: Es sind längst nicht mehr die Wähler der SVP, die das wünschen (auch wenn niemand das so geschlossen wünscht: 93 Prozent)
  • In allen bürgerlichen Parteien – FDP, Mitte, GLP (sofern man die Letztere als bürgerlich betrachtet) – spricht sich inzwischen eine Mehrheit für weniger Zuwanderung aus (ja und eher): 73 Prozent der freisinnigen Wähler 71 Prozent bei der Mitte 51 Prozent GLP

Das sind ganz erstaunliche Werte. Und sie verweisen auf ein Missverständnis zwischen Elite und Basis bei den bürgerlichen Parteien hin (abgesehen von der SVP), das so tief ist wie der Marianengraben im Pazifik (11 000 m unter Meer).
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Wenn man bedenkt, dass etwa die freisinnige Führungsspitze sich kaum getraut, Zweifel am nachhaltigen Sinn der (unbeschränkten) Personenfreizügigkeit auch nur zu erwägen, geschweige denn zu debattieren, während sage und schreibe 73 Prozent ihrer Basis gerne Abschied davon nehmen würden, dann mag man ermessen, wie viele Therapiestunden dem Freisinn noch bevorstehen, sofern er die nächsten Wahlen gut überstehen will. Schliesslich muss ein dritter Befund zu denken geben. Wer nämlich meint, sich damit beruhigen zu können, dass er diese 62 Prozent-Mehrheit ­– je nach Geschmack – als verwöhnte, von Populisten verführte oder xenophobe Trottel-Majorität ansieht, der macht es sich zu einfach. Tatsächlich sind selbst die Einwanderer zu Einwanderungsskeptikern geworden.
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Dabei spielt eine Rolle, wie lange ein Immigrant schon hier lebt:
  • 67 Prozent der Ausländer, die hier geboren und aufgewachsen sind, möchten die Einwanderung ebenfalls drosseln – die klassischen Secondos geben sich also noch kritischer als die gebürtigen Schweizer (62 Prozent)
  • Auch wer sich eingebürgert hat, zählt mehrheitlich zu den Skeptikern: 65 Prozent der eingebürgerten Schweizer möchten die Einwanderung bremsen
  • Nur jene Ausländer, die erst seit fünf oder weniger Jahren hier wohnen, stimmen dem Status quo zu (keine Beschränkung), wenn auch bloss knapp: 47 Prozent

Vor diesem Hintergrund kann man Edgar Schuler, dem Autor des Tages-Anzeigers, der diese Ergebnisse in seiner (gemeinhin Immigrationstrunkenen) Zeitung kommentiert, nur recht geben. Mit Blick auf die kommenden Nationalratswahlen schreibt er: «Wer die Zuwanderung ignoriert, hat die Wahl schon verloren». Mit anderen Worten, Thierry Burkart, Gerhard Pfister: Aufwachen. Fertig mit Pfuusen. Wenn Sie im Herbst sich nicht von neuem fragen wollen, warum nur eine bürgerliche Partei die Wahlen gewinnt, dann empfehle ich etwas mehr Adrenalin und intellektuelle Ambitionen in Sachen Immigrationspolitik. Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Tag Markus Somm PS. Warum die Schweiz reich geworden ist. Fakten und Mythen eines Wirtschaftswunders, Stämpfli Verlag Bern 2022, 333 Seiten, 49 Franken.

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