Somms Memo

Ukraine-Krieg: Ist es moralisch, wenn die Schweiz neutral bleibt? Antworten auf die Fragen meiner Kinder

image 10. August 2023 um 10:03
Zerstörte Ukraine. Hier gibt es viel für die Schweiz viel zu tun.
Zerstörte Ukraine. Hier gibt es viel für die Schweiz viel zu tun.
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Die Fakten: Die Schweiz liefert keine Waffen an die Ukraine. Der Bundesrat begründet dies mit der Neutralität. Warum das wichtig ist: Ist es moralisch, ein geschundenes Land im Stich zu lassen? Antworten auf die Fragen meiner Kinder. Seit Russland im Februar 2022 die Ukraine überfallen hat – ohne jede Legitimation, sondern, weil es dazu in der Lage war – stecken viele Schweizer in einem Dilemma:
  • Umfragen zeigen: 91 Prozent der Schweizer wollen an der Neutralität festhalten (2023). Nichts steht ihnen ferner, als in einen Krieg hineingezogen zu werden
  • Gleichzeitig plagt sie der Gedanke, nichts für die Ukraine zu tun, sondern gemütlich zuzusehen, wie die Russen ihren kleineren Nachbarn massakrieren

Wenn wir in unserer Familie am Esstisch sitzen – mit fünf Kindern, die alle zur Neutralität stehen und sich dennoch fragen, ob wir etwas falsch machen, da zu egoistisch, da zu feige, – dann erleben wir, was sich zurzeit in manchen Schweizer Familien abspielen dürfte, wenn es um die Ukraine geht. Meine Frau hat mich deshalb aufgefordert, meinen Kindern und allen andern, die es wissen wollen, einmal zu erklären, warum ich es für richtig halte, dass die Schweiz
  • die Ukraine unter keinen Umständen mit Waffen versorgen sollte
  • und was wir zu tun haben, damit wir uns trotzdem am Morgen in den Spiegel blicken können

The Big Picture: Natürlich ist das nicht das erste Mal, dass sich die Schweizer zwischen Realpolitik und Moral hin– und hergerissen fühlen. Ebenso haben wir uns schon oft genug vom Ausland vorwerfen lassen müssen, unsere Neutralitätspolitik helfe im Zweifelsfall dem Angreifer, dem Imperialisten, dem Diktator:
  • Zuletzt hielt man uns das im Zweiten Weltkrieg vor, als wir den Verbrecher Hitler genauso mit Waffen belieferten wie die Alliierten, die uns vor diesem Verbrecher schützten
  • Doch schon während des Dreissigjährigen Krieges (1618-1648) hiess es, die Eidgenossen verrieten Gott, weil sie in dieser Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Protestanten neutral blieben. Vor allem die Reformierten kamen unter Druck: die deutschen Protestanten machten ihnen schwere Vorwürfe, und der schwedische König Gustav Adolf schickte Diplomaten in die Schweiz, um die Zürcher und Berner zusammenzustauchen – und zu einem Bündnis zu bewegen

Wären die reformierten Zürcher und Berner darauf eingegangen und hätten an der Seite der Protestanten am Krieg teilgenommen – die Schweiz gäbe es wohl heute nicht mehr, zumal die katholischen Innerschweizer dann ihrerseits für den (katholischen) Kaiser ins Feld gezogen wären. Schweizer gegen Schweizer. Das Land hätte sich selber in die Luft gesprengt. Es war immer eine Frage der Existenz.  Wenn es der Kleinstaat Schweiz fertiggebracht hat, unter lauter Grossmächten auf dem konfliktreichsten Kontinent der Welt zu überleben, dann liegt das zu einem wesentlichen Teil an der Neutralität, die wir faktisch seit dem 16. Jahrhundert praktizieren.
  • Sie jetzt mir nichts dir nichts aufzugeben, wäre falsch, es wäre kurzsichtig. Die Schweiz muss in dieser Hinsicht berechenbar bleiben – für alle Staaten, wie seit gut vierhundert Jahren. Zeit ist mehr wert als alles Gold dieser Welt
  • Denn machen wir uns nichts vor: Wollten wir der Ukraine Waffen zukommen lassen, müssten wir auch Russland beliefern – nur das wäre neutral

So gesehen ist es ein Dilemma, das wir nicht aufzulösen vermögen, wenn wir uns auf diese fruchtlose Debatte um Waffenexporte einlassen.

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Das ist auch gar nicht nötig. Aus zwei Gründen:
  1. Kommt es auf die paar Waffen nicht an, die wir beisteuern würden – angesichts der gigantischen Lieferungen der Amerikaner
  2. Können wir viel Sinnvolleres beitragen – und gleichzeitig unsere Neutralität hervorheben

Wie es weitergeht: Warum entsinnen wir uns nicht der eigenen Geschichte? Immer, wenn die Schweiz auf Unverständnis stiess, weil sie sich für keine Seite entschied, fing sie das auf, indem sie allen Kriegsparteien Dinge bot, um die diese froh waren. Im Fall des Krieges in der Ukraine könnte das heissen:
  • die Schweiz schickt je vier, fünf vollausgerüstete Feldspitäler mitsamt dem nötigen Personal in die Ukraine und nach Russland, um Verwundete beider Seiten zu operieren und zu pflegen
  • Es fehlt überall an der Front an Medikamenten und Transportmitteln für Verwundete: Wo sind unsere Superpumas, wo bleiben Roche und Novartis? Wo all die vielen Autohändler, die beiden Seiten Occasions-Lastwagen zur Verfügung stellen? Gratis oder auf Kosten des Bundes
  • Ebenso sollten wir verwundete und verkrüppelte Soldaten aus der Ukraine und aus Russland in die Schweiz bringen, wo sie sich erholen
  • Wir entsenden Schweizer Ingenieure, Handwerker und Bauunternehmer ins Land, die sich um die zerstörte Infrastruktur kümmern – in den ukrainischen wie in den von den Russen besetzten Gebieten, ja selbst auf der Krim
  • Wir stellen jetzt schon Kredite für den Wiederaufbau bereit – und nennen den Europäern und den Amerikanern jeden Tag den exakten Betrag. Wenn die EU uns ein Engagement danken wird, dann dieses: Der Wiederaufbau dürfte Milliarden verschlingen – und die Europäer werden für den grössten Teil aufkommen müssen

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Sobald die Welt davon erfährt, wie grosszügig und wirksam die Schweiz das Grauen des Krieges lindern hilft, wird niemand mehr von der «Wiederausfuhr von Schweizer Waffen» sprechen oder sich fragen, wie man sich in einem solchen Krieg nur neutral verhalten kann.
  • Es ist ein altes, bewährtes Mittel: «Neutralität, Solidarität und Universalität», ein Konzept, das seinerzeit der grosse freisinnige Bundesrat Max Petitpierre erfunden hat, als es nach dem Zweiten Weltkrieg darum ging, die Stellung der Schweiz unter den Völkern zu erneuern
  • Damals leisteten wir so viel humanitäre Hilfe im kriegszerstörten Europa, dass selbst die strengsten Alliierten ihr Misstrauen und ihren Ärger vergassen, mit dem sie der Schweiz begegnet waren, weil diese auch den Nazis Waffen verkauft hatte

Oder wie es Winston Churchill, der britische Staatsmann, schon kurz nach dem Krieg gesehen hat: «Von allen Neutralen hat die Schweiz das grösste Recht auf Auszeichnung. … Was spielt es für eine Rolle, ob sie uns die kommerziellen Vorteile geben konnte, die wir uns wünschten, oder ob sie den Deutschen zu viele gab? Sie war ein demokratischer Staat, der sich für Freiheit in Selbstverteidigung eingesetzt hat … und dabei weitgehend auf unserer Seite stand». Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Tag Markus Somm

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