Ukraine: «Es droht die Tyrannei»
Ukrainische Soldaten patrouillieren in der Stadt Lemberg in der Westukraine (Bild: Keystone)
«Sie sind unglaublich tapfer, die Ukrainer», sagt Tom Palmer. Er ist um halb drei Uhr am Sonntagmorgen aus Lemberg (ukrainisch «Lwiw») zurückgekehrt. Dorthin brachte er schon zum zweiten Mal eine Lieferung an Medikamenten und medizinischen Hilfsmitteln im Wert von rund 50’000 Dollar, zum Beispiel Schmerzmittel, Desinfektionsmaterial oder Ultraschallgeräte, um innere Blutungen zu entdecken. Unterwegs war er dieses Mal mit einem amerikanischen Arzt, der sich freiwillig für einen Einsatz in einem Spital in der Ukraine gemeldet hatte (Link).
Am Freitagmorgen brach er in Warschau mit einem Bus in Richtung Lemberg auf. Die Stadt im Westen der Ukraine liegt etwa siebzig Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Von dort sind es noch 550 Kilometer in die umkämpfte ukrainische Hauptstadt Kyiv.
Der Übertritt über die Grenze sei kein Problem gewesen, erzählt Palmer. Die meisten Fahrzeuge seien sowieso nach Westen unterwegs. Die Beamten hätten nur die Pässe kontrolliert und kurz in den Bus geschaut.
Durch Panzersperren
Von da an habe sich die Lage jedoch geändert. Auf den Strassen stauten sich die Flüchtlinge in Richtung Grenze. Auf einigen Autos hätten die Flüchtlinge mit Klebeband gross «KINDER» geschrieben, als verzweifelten Appell an mögliche russische Angreifer. Richtung Osten seien vorwiegend Lastwagen mit Versorgungsgütern unterwegs. Palmer musste mit Sandsäcken und Panzersperren gesicherte Checkpoints der ukrainischen Armee überwinden.
Die Autoschlange Richtung Westen. (Bild: Tom Palmer)
Kurz vor fünf Uhr erreichte Palmer Lemberg und erlebte sogleich den ersten Alarm wegen eines drohenden Luftangriffs. Die Stadt und ihre Umgebung komme zunehmend unter Beschuss, weil sie ein wichtiger Knotenpunkt für den Nachschub sei (Link zu einer Meldung des «Daily Mail», Link zum Video). «Die grosse Angst in Lemberg ist, dass Belarus in den Krieg eintritt und von Norden her den Westen der Ukraine angreift», berichtet Palmer. Am Samstag fuhr er wieder zurück nach Warschau für den nächsten Transport. Dies dauerte wegen der zahlreichen Flüchtlinge ungleich länger.
Flüchtlinge an der ukrainisch-polnischen Grenze bei Medyka. (Bild: Keystone)
Palmer hat Erfahrungen mit Hilfsaktionen an Orten, wo eigentlich niemand mehr hin will. In den Achtzigerjahren schmuggelte er Bücher, Faxmaschinen und Devisen in die Sowjetunion. Seit der Befreiung vom Kommunismus hat Palmer mitgeholfen, in Osteuropa eine Reihe von liberalen Organisationen aufzubauen, die sich für eine offene Gesellschaft und die freie Marktwirtschaft einsetzen. «Ich kann nicht mitansehen, wie diese Menschen und ihre Aufbauarbeit wieder in Tyrannei zu versinken drohen», sagt er.
Palmer arbeitet für das Atlas Network, ein weltweites Netzwerk aus liberalen Think Tanks, auch in der Ukraine und deren Nachbarländer (Link). Das Netzwerk hat mit neun Partnerorganisationen in der Ukraine den «Ukraine Freedom Fund» aufgebaut (Link mit weiteren Informationen). Darüber wickelt Atlas Network die Soforthilfe ab. Doch Palmer genügt das nicht: «Wenn der Krieg überstanden ist, werden wir uns wieder dem Aufbau von individueller Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat und Pluralismus zuwenden.»
Kein Geld für den Overhead
Die ohne Ausnahme von Atlas Network geprüften Organisationen im Land sagen, was sie genau benötigen. Die Güter werden vor Ort oder in der Region gekauft, zurzeit vor allem in Polen. Freiwillige aus Think Tanks des Netzwerks wie Palmer sorgen dann für den Transport dorthin, wo die Güter gebraucht werden. So kann Atlas Network garantieren, dass hundert Prozent des gespendeten Geldes für Hilfsgüter und Arbeit vor Ort verwendet werden. Bis jetzt wurden gemäss Palmer insgesamt rund 800’000 Dollar gesammelt. Auch Spenden aus der Schweiz sind willkommen (Link zur Spende).