Printausgabe
Sturz in den Reichtum
Marina Lutz
Kürzlich bin ich in meiner Stammbeiz beim Gang zur Toilette auf einer Lache ausgerutscht, habe mir dabei den Ellbogen an einem Barhocker angeschlagen und danach für volle zweieinhalb Minuten unter einem dumpfen Schmerz gelitten. Auf meine umgehende Beschwerde ging Köbi, der Wirt im «Rössli», gar nicht erst ein.
Seine Begründung: Bei der Lache habe es sich um meinen eigenen Gin Tonic gehandelt, den ich zuvor verschüttet hatte. Und zum Sturz wäre es früher oder später sowieso gekommen, weil es bei Weitem nicht mein erster Gin Tonic an diesem Abend gewesen war. Köbi offerierte mir aber aus reiner Gutmütigkeit ein kostenloses Bier, und ich akzeptierte den Deal. Svetlana, seine schwarz bezahlte Temporärkraft im Service, kümmerte sich um die Sauerei am Boden, und die Sache war erledigt.
8-Millionen-Sturz
Das wäre nicht überall auf der Welt so glatt verlaufen. Aber die Schweiz ist eben nicht Amerika. Dort hat ein Mann fast acht Millionen Dollar Schadenersatz kassiert, nachdem er in einer Filiale von «Burger King» auf einer «unbekannten Substanz» ausgerutscht war. Dabei erlitt er laut Medienberichten schwere Verletzungen, die allerdings nicht näher ausgeführt wurden. Weil ein Unglück selten allein kommt, ging bei der nachfolgenden Operation etwas schief, und der Dickdarm des Mannes wurde perforiert. Ob er vom verantwortlichen Arzt weitere acht Millionen Dollar forderte, ist nicht überliefert.
Nichts gegen das Freibier im «Rössli», aber ich finde, ich bin im direkten Vergleich doch recht schlecht weggekommen. Um für meine künftigen Stürze besser vorbereitet zu sein, habe ich den Fall recherchiert. Die Bilanz: Ich hätte aus meiner Gin-Lache eindeutig mehr rausholen können. Richard Tulecki, so heisst der nun schwerreiche Kläger aus den USA, hatte nämlich eindeutig nicht mehr in der Hand als ich. Er bekam die Millionen mit der Begründung, «Burger King» habe zu wenig unternommen, um ihn vor dem Sturz zu bewahren. Das ist ziemlich abenteuerlich.
Vieles unbekannt
Zunächst einmal besteht der Boden eines durchschnittlichen Fast-Food-Lokals überall in der Welt mehr oder weniger flächendeckend aus «unbekannten Substanzen». Genau wie die Menüs übrigens, die dort verkauft werden. Man kann auch schlecht auf jedem betroffenen Quadratmeter ein Schild «Achtung Rutschgefahr» hinstellen, ansonsten würde der Gang durch die Filiale zum Slalomlauf.
Zudem enthüllten US-Medien, dass der Mann nicht vor der Theke, sondern im Toilettenbereich des Lokals gestürzt war. Dort ist die Dichte an unbekannten Substanzen bekanntlich noch grösser, und irgendwie ist man sogar froh, dass man nicht näher weiss, was das alles ist. Aber wer in einem Klo angeblich völlig ahnungslos auf etwas Unvermutetem ausrutscht, der legt sich auch zehn Stunden in die Sonne und jammert danach über den Sonnenbrand.
Richard Tulecki hat einfach das Glück, in den USA zu leben, wo man bekanntlich auch Schadenersatz bekommt, wenn man ein Kilo Waschmaschinenpulver frisst, nur weil nicht auf der Verpackung steht, dass dieses nicht zum Verzehr geeignet ist. Ich habe kurz nachgerechnet. Tulecki bekam eine runde Million Dollar für Schmerzen und Leiden, die er nach dem Sturz durchlebt hatte. Weitere 700 000 gabs für die medizinische Behandlung. 2,8 Millionen flossen für mögliche künftige Schmerzen, einfach mal sicherheitshalber. Und 3 Millionen für den drohenden Verdienstausfall im restlichen Berufsleben.
Ich beziffere meinen kurzzeitig zuckenden Ellbogen mal mit zehn Franken. Einen Arzt musste ich nicht konsultieren, und künftige Schmerzen erwarte ich nicht. Da ich mit den Fingern tippe und nicht mit dem Ellbogen, kann ich auch keine entgangenen Einnahmen geltend machen. Damit bleibt mir eine Zehnernote Schadenersatz, und Köbi nimmt für die Stange 5 Franken. Demnach hätte ich über das Freibier hinaus noch einen Fünfliber zugute, aber mein Gefühl sagt mir, dass die Anwaltshonorare leicht darüber liegen würden. Also bin ich für Schweizer Verhältnisse vermutlich gut weggekommen.
Verbrennung
Demnächst wird in den USA übrigens eine weitere Schadenersatzzahlung fällig, dieses Mal gegen «McDonald’s». Eine Familie hat die Firma erfolgreich verklagt, weil ihre vierjährige autistische Tochter beim Essen eines Chicken McNugget Verbrennungen zweiten Grades erlitten habe. Für acht Millionen Dollar wird es kaum reichen, weil dieses Mal kein perforierter Darm im Spiel war. Aber mehr als ein Gratisbier wird es wohl geben.