Somms Memo
Stuckrad-Barres neuer Roman: Verrat und Charakterschwäche, die sich als Literatur tarnen
Benjamin von Stuckrad-Barre, Pop-Poet und Reporter.
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Die Fakten: Der deutsche Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre karikiert und kritisiert in einem Roman Vorgänge im Springer-Verlag. Das Buch ist ein Bestseller.
Warum das wichtig ist: Was als Fiktion dargestellt wird, beruht auf Fakten, aber niemand weiss, welche genau. Darf eine Abrechnung so unfair sein?
Dieser Roman ist kein Roman, sondern tut nur so
- Tatsächlich ist klar, dass hier Menschen beschrieben werden, die es gibt, auch wenn sie ein wenig getarnt werden
- Namentlich: Mathias Döpfner, Chef des grössten und mächtigsten Medienkonzerns von Europa (Axel Springer, Berlin)
- Julian Reichelt, gewesener Chefredakteur der BILD, der nach wie vor grössten und mächtigsten Boulevardzeitung des Kontinents (an die 8 Millionen Leser). Das Blatt (Print und digital) gehört zum Springer Verlag. Reichelt musste 2021 seine Stelle aufgeben, nachdem ihm zu viele einseitige Affären mit jungen Frauen im Betrieb vorgeworfen worden waren
Seit einigen Tagen bebt Berlin, weil zuerst alles (OK, die Journalisten) darauf gewartet hat, bis das neue Buch von Benjamin von Stuckrad-Barre erscheinen würde, von dem man sich voyeuristische Einblicke in einen Verlag erhoffte, den man nicht mag (er ist konservativ), dann kam das Buch heraus, und seither wird gelesen – mit zunehmendem Vergnügen und Abscheu.
- Dass in diesem vermeintlichen Roman Mathias Döpfner als ein peinlicher Wichtigtuer vorgeführt wird, der sich insbesondere in Kalifornien als cooler Silicon-Valley-Superstar aufpumpt und dabei nur der kleine deutsche Michel bleibt: Das freut die Journalisten in Deutschland, die Amerika oft nur aus dem Fernsehen kennen
- Und dass Julian Reichelt, den man längst als einen Rechtspopulisten in die Hölle verbannt hat, hier als «faselnder Gartenzaunnazi» und Weiberheld entlarvt wird, der seine Prärogativen als Chef missbraucht: Das bringt die Journalisten in Berlin ganz aus dem Häuschen, zumal in der deutschen Politik im Vergleich zu amerikanischen Verhältnissen ja kaum je etwas passiert. Die Zeiten der interessanten Giganten sind lange vorbei
Das Buch heisst «Noch wach?», was sich auf eine Textnachricht bezieht, mit der «Reichelt» – stets bloss als «Chefredakteur» bezeichnet –, eine junge Frau bedrängt, die vielleicht lieber schlafen möchte, als sich «Reichelt» zur Verfügung zu stellen.
Das Buch hat Stärken und es hat Schwächen:
- Stark ist ohne Zweifel, wie Stuckrad-Barre erzählt: Die Dramaturgie stimmt, die Geschichte rollt ab wie ein Film, immer geschieht etwas, was man lieber jetzt als morgen erfahren würde
- Wenn Stuckrad-Barre Menschen schildert, dann gelingt ihm das sehr präzis und glaubwürdig. Man meint die angeblich fiktiven Figuren reden zu hören, man spürt, wie aufmerksam der Autor sie beobachtet hat. Ein Spion, ein Erforscher der Dunkelheit
Schwach ist der Stil:
- Viel zu hektisch, viel zu assoziativ, sehr abgehackt, die Sätze liegen zuweilen herum wie tote Tiere
- Der Stil ist so auffällig, dass er oft vom guten Inhalt ablenkt. Viel Brimborium, wo das gar nicht nötig wäre. Man fühlt sich an eine alternde Sängerin erinnert, die fantastisch singt, deren Gesicht aber so viele Botox-Behandlungen erkennen lässt, dass man nur mehr auf ihr Gesicht starrt – und nichts mehr hört
Wenn das alles den Literaturkritiker oder Leser beschäftigen mag, so muss uns der Roman aus einem anderen Grund viel mehr zu denken geben:
- Darf man das?
- Ist es legitim, ist es ethisch, unter dem Vorwand eines Romans, reale Menschen abzuurteilen, ohne dass die sich wehren können?
Denn natürlich lebt dieser Roman davon (und wurde deswegen auch zum Bestseller), weil er sich zwar als Roman verkauft, aber der Leser eben doch erwartet, einen Tatsachenbericht erworben zu haben.
Einen Tatsachenbericht über einen Manager, der einen einflussreichen Verlag führt, ein Verleger und Teilbesitzer des Konzerns auch, der in Deutschland in gewissen Kreisen geradezu verhasst ist, zumal er als konservativ gilt, Amerika-freundlich, Merkel-kritisch und Corona-skeptisch.
Unter Döpfner (und zuvor auch mit Reichelt) ist der Axel Springer Konzern vielleicht zur gefürchtetsten Opposition im Land aufgestiegen. Während die AfD, eine Partei, oft und zu Recht als unappetitliche Trotteltruppe abgetan werden kann, ist das bei Springer nicht der Fall.
Wenn sich der linksliberale Mainstream in den deutschen Medien jetzt auf Döpfner stürzt und mit Genugtuung in einem Roman von ihm liest, wo er fallweise als unfähig, charakterschwach oder eingebildet dargestellt wird, der sich ausserstande sieht, einen übergriffigen Chefredakteur zur Ordnung zu rufen, dann hat das auch mit Politik zu tun:
- Döpfner ist wohl der letzte mächtige Bürgerliche in Deutschland
- Deshalb muss er fallen
Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender der Axel Springer SE.
Es hilft, dass dieser «Tatsachenbericht» von einem geschrieben wurde, der erstens schreiben kann, und zweitens sich als ehemaliger, aber sehr enger Freund von Döpfner inszeniert.
Wenn etwas diesen Roman zu einem ethischen Debakel macht, dann dieser Umstand:
- Was ist das für ein «Freund», der seinen «allerbesten Freund» (so nennt Stuckrad-Barre in seinem Buch Döpfner) auf diese Art und Weise zum Abschuss freigibt? Das macht man nicht, selbst wenn man sich zuvor unheilbar zerstritten hat
- Umso mehr klingt der moralische Ton falsch, der diesen Roman zum Tönen bringt. Stuckrad-Barre wirft allen anderen vor, Charakterlumpen zu sein, doch er tut das, indem sich selbst als grösster Charakterlump betätigt
Niedertracht und Verrat in Berlin.
Mit Blick auf seine Beziehung zu «Döpfner» sagt Stuckrad-Barre im Roman:
«Da konnte es eigentlich – darin waren wir uns einig und das besiegelten wir oftmals mit sehr langen, festen Umarmungen und einander ins Ohr geflüsterten Schwüren – wirklich nichts geben, was sich zwischen uns würde schieben können. Gar nichts.»
Auch Heuchler müssen sterben.
Stuckrad-Barre arbeitete übrigens länger im Springer-Verlag. Döpfner hatte ihm eine Stelle verschafft, die es vermutlich nicht brauchte. Stuckrad-Barre soll dafür ein Monatsgehalt von 40 000 Euro bezogen haben.
Ich wünsche Ihnen ein erholsames Wochenende
Markus Somm
PS. Der 1. Mai ist im Kanton Zürich (unnötigerweise) ein Feiertag. Deshalb erscheint das nächste Memo am Dienstag, 2. Mai 2023.