Somms Memo

Steigende Jugendgewalt. Passen Sie auf Ihre Kinder auf.

image 15. November 2022 um 11:00
Wer in die Schule geht, lebt gefährlich. Gewalt an der Schule.
Wer in die Schule geht, lebt gefährlich. Gewalt an der Schule.
Die Fakten: Gewaltdelikte unter Jugendlichen haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Das zeigt eine Opfer- und Täterbefragung im Kanton Zürich. Warum das wichtig ist: Offenbar bildet sich eine neue Macho-Kultur aus. Buben werden häufiger von ihren Kollegen geschlagen und Mädchen öfter sexuell belästigt. Wer Kinder hat (wie meine Frau und ich, nämlich fünf) weiss, was er seinen Buben sagt, wenn sie in den Ausgang nach Zürich wollen:
  • Lass Dich nicht provozieren!
  • Nicht an den See!
  • Nie allein!

Bei den Mädchen ist es so, dass ich sie jedes Mal vom Bahnhof abhole, wenn sie spät nach Hause kommen – und wenn sie so spät eintreffen, dass wir eigentlich schon schlafen, schlafe ich eben nicht. Bis sie zu Hause sind. Ein Stein fällt mir vom Herzen um morgens um vier. Gewiss, meine Frau sagt mir, ich sei überängstlich – und das mag sein. Die Zahlen allerdings geben mir recht, wie sie die neueste Zürcher Jugendbefragung 2021 eruiert hat, die vor wenigen Wochen erschienen ist. Die Studie stammt von Denis Ribeaud und Michelle Loher, zwei Forschern am Jacobs Center for Productive Youth Development der Universität Zürich.
  • Insgesamt wurden 4500 Jugendliche befragt
  • Sie waren zwischen 13 und 19 Jahre alt (7., 9. oder 11. Klasse)
  • Die Interviews fanden im Mai bis Juli 2021 statt. Die vorletzte Untersuchung war 2014 vorgenommen worden

Es handelt sich um eine sogenannte Opfer- bzw. Täterbefragung, wo man sich bei den Leuten erkundigt, ob sie in den vergangenen 12 oder auch 30 Monaten ein Delikt erfahren oder eines ausgeübt haben. Wenn auf diese Art und Weise das sogenannte Dunkelfeld der Kriminalität ausgeleuchtet wird, dann ergeben sich in der Regel höhere Zahlen als in der offiziellen Kriminalitätsstatistik der Polizei, wo nur die angezeigten Delikte gemessen werden. Das liegt natürlich daran, dass viele Delikte, gerade wenn es um Gewalt geht, gar nicht zur Anzeige gebracht werden. Bei Jugendlichen dürfte dieser Unterschied noch ausgeprägter ausfallen. Dennoch decken sich die Kurven, was für die Zuverlässigkeit beider Statistiken spricht.
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Was auf den ersten Blick auffällt, ist die Entwicklung über die letzten Jahre. Nachdem die Kriminalität seit 1999 bis etwa 2009/10 Jahre ständig gewachsen war, ging sie zuerst zurück, um in der jüngsten Zeit seit 2016 von neuem stark anzusteigen. Mit Blick auf meine Kinder muss ich sagen: Genau dann, als sie ins Teenageralter kamen, nahm die Gewalt in Schulen, am Bahnhof und im Ausgang zu – was sich mit ihren Schilderungen deckt. Ein erstes Fazit:
  • Nicht immer täuscht der subjektive Eindruck
  • oft liegen wir richtig, wenn wir von unseren Erfahrungen oder jenen unserer Kinder auf andere schliessen

Das wird umso mehr bestätigt, wenn wir die Opferbefragung betrachten, wo sich die allgemeine Verrohung noch unmissverständlicher ablesen lässt.
  • So gut wie alle Gewaltdelikte haben seit 2014 um nahezu 50 Prozent zugelegt
  • Insbesondere die sexuelle Gewalt, sie hat sich mehr als verdoppelt: + 143 Prozent
  • Nur Körperverletzungen ohne Waffe blieben auf dem gleichen Niveau
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Zweitens, auch das ist Common Sense, und trotzdem muss man es immer wieder betonen:
  • Buben werden verprügelt, bestohlen oder erpresst
  • Mädchen werden vergewaltigt, sexuell belästigt und angemacht

Kurz, beide Geschlechter sind von eskalierender Gewalt betroffen, doch ist es richtig, wenn wir den Buben einen anderen Rat geben als den Mädchen. Triumph der Machos? Wenn eine schlechte Nachricht unter den vielen schlechten Nachrichten heraussticht, die uns Ribeaud/Loher überbringen, dann nämlich diese:
  • Sexuelle Gewalt gegen Mädchen hat sich in besorgniserregendem Ausmass verbreitet
  • Und es trifft fast ausschliesslich Mädchen

Ein No-Brainer, wer die Natur des Menschen kennt, doch in unseren komplizierten Zeiten, was den erlaubten und nicht erlaubten Diskurs betrifft, muss man manchmal daran erinnern. Ergänzt man diese Statistik der sexuellen Gewalt nämlich mit etwas «milderen» Formen der sexuellen Zumutungen, wie «Grapschen», «Anmachen», anzügliche oder sexistische Bemerkungen, dann zeigt sich ein Bild des Grauens:
  • 36 Prozent der 16-jährigen Mädchen waren schon Opfer von «sexuellen Belästigungen im schulischen Kontext»
  • Und bei den 18-Jährigen sind es immer noch rund 25 Prozent, also ein Viertel

Mit anderen Worten, wer in die Schule geht und meint, er könne in Ruhe etwas lernen, ist selber schuld. Was ist in unserem Land geschehen? Welche Ghettos sind in den vergangenen Jahren unter unseren Augen entstanden? Thema für ein nächstes Memo. Wir möchten es wissen, auf die Gefahr hin, dass uns den Schlaf raubt, was wir lernen. Im Sinne von Norman Mailer, dem grossen amerikanischen Autor: «Wenn der Mensch zu viel weiss, wird das lebensgefährlich. Das haben nicht erst die Kernphysiker erkannt, das wusste schon die Mafia.» Ich wünsche Ihnen einen nachdenklichen Tag. Passen Sie auf Ihre Kinder auf.  Markus Somm


P.S. Link zur Studie: Ribeaud, D. & Loher, M. (2022). Entwicklung von Gewalterfahrungen Jugendlicher im Kanton Zürich 1999-2021. Forschungsbericht. Zürich: Jacobs Center for Productive Youth Development, Universität Zürich.

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