Somms Memo

Yair Golan: «Dieser Krieg ist nicht zu gewinnen». Die Sicht eines israelischen Generals

image 20. Juni 2022 um 10:00
Zerstörter LKW in der Ukraine, Juni 2022.
Zerstörter LKW in der Ukraine, Juni 2022.
Die Fakten: Die ukrainische Armee bleibt in der Defensive. Russland macht sich an die Eroberung von Sjewjerodonezk, einer strategisch wichtigen Stadt im nordwestlichen Donbass.

Warum das wichtig ist: Der russische Vorstoss kommt langsam, aber sicher voran. Der Donbass dürfte für die Ukraine auf immer verloren sein.


«Gib Unterwürfigkeit vor, um die Arroganz des Gegners anzustacheln»,
riet Sun Tsu, der grosse chinesische Stratege, der etwa von 544 bis 496 v. Chr. lebte.
Ob Wolodimir Selenski, der ukrainische Präsident, sich an diesen uralten, schlauen Rat hält, ist unklar. Manchmal schon, dann wieder nicht:
  • Manchmal glaubt er die Ukraine vor dem Untergang, falls der Westen nicht mehr Waffen liefert. Selenski warnt, Selenski klagt, Selenski rüttelt auf
  • Dann aber sagt er wieder: «Wir gewinnen alles zurück, jeden einzelnen Quadratmeter»

Und in diesem Moment wirkt er etwas verloren, wenn nicht weltfremd. Denn derzeit sieht es nicht gut aus für die Ukraine.
«Nachdem der Blitzkrieg gegen die Ukraine gescheitert ist», sagt Yair Golan, «setzt Putin auf einen War of Attrition, einen Zermürbungskrieg – und damit erzielt er eindeutig mehr Erfolge».
Yair Golan ist Generalmajor und ehemaliger stellvertretender Generalstabschef der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte IDF. Ich erreiche ihn am See Genezareth, wo er das Wochenende mit Freunden verbringt.
Seit den 1980er Jahren hat Golan, ein Berufsmilitär, so gut wie jeden Krieg seines Landes mitgemacht. Er war Chef des Heimatfront-Kommandos sowie des Nordkommandos, das unter anderem für den Schutz Israels gegen Syrien und Libanon zuständig ist. Heute sitzt Golan als stellvertretender Wirtschaftsminister für die linksliberale Meretz in der israelischen Regierung; zudem ist er Abgeordneter in der Knesset, dem israelischen Parlament.
Wir haben uns seinerzeit in Harvard kennengelernt, wo wir zusammen studierten, und sind seither Freunde geblieben. Wann immer ich, ein ehemaliges GSoA-Mitglied, militärische Expertise brauche, wende ich mich an ihn, den israelischen General. Schon im Februar, kurz nach Ausbruch des Krieges, habe ich in zwei Memos seine Einschätzungen wiedergegeben.
image
Yair Golan ist Generalmajor und ehemaliger stellvertretender Generalstabschef der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte IDF. Heute sitzt Golan als stellvertretender Wirtschaftsminister in der israelischen Regierung.
Auf die Frage, wie er jetzt, mehr als 100 Tage danach, die Lage beurteile, gibt sich Yair Golan pessimistisch:
  • Zwar seien den Ukrainern ein paar erstaunliche Durchbrüche geglückt
  • Doch die Russen kommen voran – wenn auch langsamer als sie sich das wohl gewünscht hätten

Dennoch ist Golan überzeugt:
  • «Der Donbass ist verloren. Die Russen werden ihn nie mehr hergeben»
  • «Und niemand wird das ändern können. Die Ukrainer sind dazu nicht in der Lage. Und der Westen ist dazu nicht bereit. Niemand in der Nato geht für den Donbass in den Krieg»

Dann hatte Henry Kissinger also recht, als er die Ukrainer zu einem Waffenstillstand und territorialen Konzessionen aufforderte?
Ich frage das, einer, der noch vor wenigen Wochen den ehemaligen US-Aussenminister deswegen mit Neville Chamberlain verglichen hatte, jenem britischen Premierminister, der sich seinerzeit als Erfinder des Appeasements gegenüber Hitler einen denkbar miserablen Ruf erworben hatte.
Golan entgegnet:
«Kissingers Vorschlag ist rational – aber chancenlos. Sowohl in Russland als auch in der Ukraine sind nun politische Kräfte am Werk, denen es schwerfällt, noch rational zu handeln. Das Emotionale hat überhandgenommen, wie das oft im Krieg geschieht.»
image
Was soll Selenski tun? Was würde er ihm anraten, wäre er sein Generalstabschef?
Golan hält fest:
  1. Der Donbass ist zu verschmerzen. Von viel grösserer Bedeutung sind für die Ukraine die Gebiete am Schwarzen Meer, insbesondere der Zugang zum Meer. «Hier muss Selenski alles daransetzen, seine territorialen Verluste zu minimieren
  2. Schon jetzt einen Ausgleich anzustreben, wäre falsch, da unvorteilhaft. Selenski kann davon ausgehen, dass jede Kriegsverlängerung auch die Russen immer härter trifft. Eine weitere Dauer von fünf bis sechs Monaten tut ihnen genauso weh. Erst wenn es der ukrainischen Armee gelingt, zwei, drei entscheidende Siege gegen die Russen zu erringen, sollte Selenski auf Putin zugehen. «Dann ist der Zeitpunkt gekommen, aus einer Position der Stärke heraus einen Waffenstillstand auszuhandeln.» Was womöglich den Weg zu einem «Abkommen» bereiten könnte.
  3. Sobald das erreicht ist, muss Selenski aber mit allen Mitteln aufrüsten. Die Ukrainer wissen nun genau, wo die Schwächen und die Stärken der Russen liegen. «Offensichtlich ist die russische Armee nicht mehr die Rote Armee

Golan glaubt nicht, dass ein Waffenstillstand und Gebietsabtretungen einen weiteren Krieg auf Dauer unterbinden. Nur wenn die Ukraine wachsam und militärisch schlagkräftig bleibt, kann sie die Russen auf Distanz halten.
Und was wäre, wenn Selenski diesen Krieg gewänne?
«Was heisst Gewinnen? Diesen Krieg kann man nicht gewinnen», sagt Yair Golan.
Wir verabschieden uns, und ich stelle mir vor, wie er zu seiner Frau und den Freunden zurückkehrt, um Abend zu essen und zu trinken, in einem wunderbaren Land, das sich eigentlich, seit es besteht, im Kriegszustand befindet.

Ich wünsche Ihnen einen nachdenklichen Wochenbeginn Markus Somm

#WEITERE THEMEN

image
Somms Memo

Schweiz Tourismus wirbt mit Roger Federer und Trevor Noah. Ein Meisterwerk. Warum eigentlich?

31.3.2023

#MEHR VON DIESEM AUTOR