Somms Memo: Wie die Deutschen die Russische Revolution finanzierten
Lenin (1870-1924): Revolutionär, Verbrecher.
Die Fakten: Deutschland schickte im Ersten Weltkrieg Lenin nach Russland, Deutschland finanzierte seine Revolution.
Warum das wichtig ist: Wenn es ein Ereignis gibt, das bis heute Europa heimsucht, dann die Russische Revolution von 1917. Was die Deutschen beförderten, um zu siegen, führte sie selbst ins Elend.
An einem Haus im Niederdorf an der Spiegelgasse in Zürich befindet sich nach wie vor eine seltsame Gedenktafel:
«Hier wohnte
v. 21. Februar 1916 bis 2. April 1917
Lenin
Der Führer der Russischen Revolution»
Seltsam, weil auffällig neutral, wenn nicht ehrerbietig gehalten – wenn man bedenkt, dass hier an einen der Massenmörder der Weltgeschichte erinnert wird, der nicht nur sein eigenes Land ins Unglück geführt hat, sondern die ganze Welt.
Es gibt wenige Ereignisse, die so verheerende, so tödliche, so weitreichende Folgen hatte wie die Russische Revolution.
- Rund 100 Millionen Tote weltweit – zumal die Kommunisten ihre Revolution in zahllose andere Länder exportieren sollten
- Der Ruin Russlands – was wir seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion umso krasser besichtigen können
- Die Russische Revolution destabilisierte nach dem Ersten Weltkrieg halb Europa, insbesondere Deutschland und die osteuropäischen Länder. Indirekt bereitete sie damit auch dem Zweiten Weltkrieg den Weg (weitere 60 Millionen Tote)
Selbst der aktuelle Konflikt zwischen Russland und der Ukraine lässt sich auf den Ersten Weltkrieg und die Russische Revolution zurückführen.
Um seinen Aufstand zu fördern, redete Lenin vor der Revolution der ukrainischen Unabhängigkeit das Wort. Er ermunterte die Separatisten in Kiew, er pries sie, er half ihnen. Er, der Grossrusse, tat so, als ob ihm die Ukrainer, die sogenannten Kleinrussen, am Herzen lägen.
Aus Opportunismus, wie sich bald erweisen sollte, nachdem er die Macht ergriffen hatte: Mit Feuer und Schwert liess Lenin jetzt die unabhängige Ukraine wieder zurückerobern. Wer sich wehrte, wurde verhaftet, deportiert oder auf der Stelle umgebracht. Massaker in Kiew zum Wohle der Weltrevolution.
Lenin, der Grossverbrecher. Wer ihn unterstützte, wer ihn ermöglichte, trägt deshalb eine grosse historische Verantwortung.
So vor allen Dingen die kaiserliche Regierung des damaligen Deutschen Reiches.
Lenin war ihr Mann. Die kommunistische Revolution war ihr Werk.
Um den Krieg zu gewinnen, waren die Deutschen zu allem bereit. Sie mussten wohl auch, denn ihre Politiker hatten das Land vor dem Ersten Weltkrieg in eine ausweglose Lage versetzt.
- Es gab vor 1914 fünf Grossmächte in Europa
- Drei von ihnen hatte der Kaiser gegen sich aufgebracht: Russland, Frankreich und Grossbritannien. Diese drei Grossmächte hatten sich in der Folge gegen Deutschland zusammengeschlossen
- Es blieb den Deutschen ein einziger Freund unter den Grossmächten: Österreich-Ungarn – die mit Abstand schwächste und traurigste von ihnen
Als 1914 der Krieg ausbrach, wofür Deutschland nicht allein, aber doch entscheidend verantwortlich war, sah sich das mächtige Land einem Meer von Feinden gegenüber. Das auf jeden Fall hatten sich die Deutschen selbst zuzuschreiben.
Selten haben Politiker so versagt und ihr blühendes, glückliches Land geradewegs in den Abgrund geführt wie die deutschen Politiker vor und während des Ersten Weltkrieges.
Das zeigt sich vielleicht nirgendwo so deutlich wie beim Fall Lenin.
Schon zu Beginn des Krieges hatte ein deutscher Diplomat seiner Regierung in einer Denkschrift empfohlen, heimlich in Russland Unruhen zu schüren, um das Land aus den Fugen zu bringen. Wer immer dem Zaren und seiner Regierung Schwierigkeiten machte, sollte von den Deutschen unterstützt werden.
- Der Gedanke war naheliegend. Der Zar war schon 1905/07 in einer ersten Rebellion fast gestürzt worden
- Russland war ein Trainingslager des Umsturzes: Es gab unzählige radikale, terroristische Revolutionäre, die im Untergrund lauerten, um jederzeit loszuschlagen
- Russland war zudem ein Imperium der multikulturellen Vielfalt oder – je nach Standpunkt – ein Völkergefängnis: 200 verschiedene Völker lebten hier und nicht alle fügten sich mit Freude der Herrschaft der Grossrussen: Es gab Separatisten in Polen, Finnland, im Baltikum oder in der Ukraine
Sie alle waren potenzielle Agenten des Deutschen Kaiserreiches, unfreiwillige, verräterische Verbündete, Wühlmäuse und fünfte Kolonnen. Warum sie nicht nutzen?
Allerdings warnte der deutsche Diplomat seine Vorgesetzten: Die Sache konnte genauso ins Auge gehen.
Was, wenn die Revolution, einmal in Russland ausgelöst, auch auf Deutschland übergreifen würde?
Schliesslich gab es hier ebensoviele Sozialisten und Unruhestifter, die von der Revolution träumten. Wenn der böse Geist aus der Flasche entwichen war: Wer fing ihn wieder ein?
Trotzdem fand man in Berlin den Gedanken interessant.
An diesem Ort im Zürcher Niederdorf lebte Lenin mit seiner Frau Nadeschda Krupskaja während des Ersten Weltkrieges.
Als Anfang 1917 in Russland die sogenannte Februarrevolution, die erste Revolution, ausbrach, erschien den Deutschen deshalb ein Mann plötzlich noch interessanter als je zuvor:
Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin.
Denn die Februarrevolution, an deren Auslösung die Deutschen keinerlei Anteil hatten, nützte den Deutschen nichts. Es war eine bürgerliche Revolution. Nach Unruhen war es liberalen und oft adligen Gentlemen gelungen, den Zaren zur Abdankung zu bewegen. Ziel war es, aus Russland eine Republik nach dem Vorbild Frankreichs zu formen, kapitalistisch auf jeden Fall, aber auch parlamentarisch und zivil.
Zwar herrschte nun Chaos in Russland, was es schwächte, doch die neue Regierung verhielt sich nicht so, wie sich die Deutschen das erhofft hatten: Russland kündigte an, den Krieg gegen die Deutschen an der Seite seiner westlichen Alliierten Frankreich und England fortsetzen zu wollen.
- Niemand in der neuen Regierung sprach von einem vorzeitigen Waffenstillstand mit den Deutschen
- Selbst die Sozialisten und Anarchisten nicht, auch sie fühlten sich in erster Linie als russische Patrioten: «Nieder mit den Deutschen!», riefen auch sie
Nur Lenin sprach anders. Er sprach so, wie es die Deutschen gerne hörten.
Er war der Radikalste. Er drängte auf einen unverzüglichen Friedensschluss – ja, er liess erkennen, dass er alles dafür tat, dass Russland den Krieg verlor. Nur ein besiegtes, ruiniertes Russland, so sein Kalkül, wäre bereit für eine zweite Revolution. Die Deutschen sollten sein Land zerstören, damit er es sozialistisch wiederaufbauen konnte.
Der Mann war ein Berufsrevolutionär ohne Beruf und ohne Revolution.
Seit gut siebzehn Jahren hatte er im Exil gelebt, unter anderem in der Schweiz, seit Anfang 1916 in Zürich an der Spiegelgasse. In linken Kreisen bekannt und berüchtigt als einer der ganz Humorlosen, aber Machtbewussten, einer weiteren Öffentlichkeit kaum vertraut, war Lenin lange nicht zum Zug gekommen. Seine Partei, genannt die Bolschewiki, eine linksextreme Sekte, bestand aus ein paar Tausend Leuten, die ihn nicht mochten, aber um so unterwürfiger gehorchten.
Niemand ausserhalb des linken Milieus nahm ihn ernst, auch wenn er sehr ernst tat. Niemand erwartete von diesem Mann etwas Weltgeschichtliches. Lenin sass in Zürichs Café Odeon herum, ohne etwas zu tun zu haben, dann wechselte er in die ZB, wo er Bücher las, die er schon kannte. Ein Mann, der im Begriff war, vor Langeweile zu sterben, dessen Zukunft bereits Vergangenheit zu sein schien.
Jetzt, im Februar 1917, brach seine Stunde an, unvermittelt, unverhofft, dank den Deutschen.
Zwar hatten diese ihn schon länger im Auge behalten als einer, der ihnen noch nützlich werden konnte. Doch 1917 erwies er sich als fast der einzige, auf den man setzen konnte, wenn es darum ging, Russland vollends ausser Rand und Band zu bringen.
Wie aber verfrachtete man diese Zeitbombe, die in Zürich tickte, ohne jemanden zu erschrecken, zurück nach St. Petersberg, um sie endlich zur Detonation zu bringen?
Ein Schweizer namens Fritz Platten bot den Deutschen seine Dienste an. Selbst ein Sozialist und ein Freund von Lenin, handelte mit den deutschen Agenten und Diplomaten aus, wie man Lenin per Zug nach Russland spedieren konnte.
- Die Reise war anspruchsvoll
- Man musste Lenin durch ganz Deutschland transportieren, ohne den Eindruck zu erwecken, es handelte sich bei Lenin um einen deutschen Agenten
- Deshalb erfand man die Idee des «plombierten Wagens»: Lenin sollte im Zug sitzen, ohne je deutschen Boden zu betreten
Am 9. April 1917 ging es los. Lenin, seine Frau, sowie seine Geliebte, Fritz Platten und weitere 28 Revolutionäre, zumeist aus Russland, bestiegen in Zürichs Hauptbahnhof den Zug. Man hielt ein paar Reden, man sang und lachte, wobei Lenin beste Laune zeigte, was in seinem Fall aussah, als hätte er statt Essig nur Salzwasser getrunken.
Sieben Tage später – nach einer beschwerlichen, oft unterbrochenen Bahnfahrt durch Deutschland und Schweden – kam Lenin in St. Petersburg an, das damals Petrograd hiess.
Lenin kommt 1917 in Petrograd an. Sowjetisches Gemälde. Aus propagandistischen Gründen sieht man auch Stalin im Zug. Doch Stalin befand sie nie im Zug.
Unversehens nahm er sein Zerstörungswerk auf. Ein deutscher Agent in Stockholm meldete der deutschen Armeeführung:
«Lenins Ankunft in Russland erfolgreich. Er arbeitet genauso, wie wir uns das erwünscht haben.»
Lenin sollte sich in den kommenden Monaten durchsetzen. Im späten Herbst löste er die Oktoberrevolution aus, eine zweite, nun kommunistische Revolution. Und Russland würde nie mehr sein, was es einmal gewesen war.
Dass er so «erfolgreich» war, wie die Deutschen mit Genugtuung vermerkten, hatte verschiedene Ursachen:
- Lenin war rücksichtsloser und machtbewusster als alle seine Rivalen zusammen
- Auch radikaler – inhaltlich gab er nie nach, und auch taktisch nicht. Was er sich in den Kopf gesetzt hatte, zog er durch
- Vor allem aber hatte Lenin viel Geld zur Verfügung, mehr Geld als alle anderen: Das Geld der Deutschen, die ihn grosszügig unterstützten
Seit der Russischen Revolution wurde über diesen Punkt spekuliert, natürlich fanden Glaubenskriege statt, denn insbesondere die Linke wollte nie wahrhaben, dass ausgerechnet das kapitalistische Kaiserreich die sozialistische Revolution finanziert hatte.
- Man stritt es ab
- Oder nannte nur kleine Beträge
Neueste Forschungen haben allerdings ergeben, dass diese kleinen Beträge in Tat und Wahrheit gigantisch waren:
- Insgesamt schickte Deutschland Lenin mehr als 50 Millionen Goldmark, das entspricht heute einem Wert von mehr als 1 Milliarde Franken
Der Preis der Revolution. Der Preis des Unterganges.
Wenn man sich vor Augen führt, dass die gleichen Deutschen bald in Berlin selber eine Revolution erleben sollten, und auch sonst von den Folgen der Russischen Revolution so betroffen waren wie kaum jemand anders im 20. Jahrhundert ausser den Russen, und das bis heute, muss man von einem unermesslichen Schaden sprechen, den sie sich selbst zugefügt hatten, im Glauben, damit Russland zu besiegen. Sie besiegten sich selbst, indem sie anderen eine Niederlage bereiteten.
Lenin, der scheinbar nützliche Idiot, stellte sich als jener heraus, der die Deutschen wie Idioten aussehen liess. Er wusste es besser:
«Es gibt keine Moral in der Politik. Es gibt nur den Zweck. Ein Schurke kann für uns von Nutzen sein, nur weil er ein Schurke ist.»
Ich wünsche Ihnen ein paar wundervolle Tage über Auffahrt
Markus Somm
P.S. Auch ich pausiere. Das nächste Memo erscheint am Montag, 30. Mai.