Somms Memo: Warum kann die Linke nie, nie, nie verlieren?
Min Li Marti, Nationalrätin (SP, Zürich).
Die Fakten: Die Zürcher haben zwei linke Anliegen mit grossen Mehrheiten verworfen: die Elternzeit und das Stimmrechtsalter 16.
Warum das wichtig ist: Die Niederlage fiel so brutal aus, dass man meinen müsste, die Linke ginge über die Bücher. Das Gegenteil dürfte eintreffen.
Wann fängt die Zwängerei an, wann hört die Demokratie auf?
Kaum hatten die Zürcher gestern die Elternzeit und das Stimmrechtsalter 16 mit deutlichen Mehrheiten abgelehnt, meldeten sich die Verlierer zu Wort:
«Nun müssen wir die Menschen in der Mitte überzeugen. Dafür brauchen wir auch die Befürworter in den Mitte-Parteien. Die Elternzeit können wir nur gemeinsam erreichen», sagte SP-Nationalrätin Min Li Marti.
Und Priska Seiler Graf, Co-Präsidentin der SP Kanton Zürich, stellte klar:
«Natürlich hätten wir uns heute andere Resultate gewünscht. Wir lassen uns davon aber nicht entmutigen. Manche Fortschritte brauchen eben mehrere Anläufe. Die AHV und das Frauenstimmrecht wurden auch nicht im ersten Anlauf eingeführt. Wir bleiben auf jeden Fall dran.»
Preisfrage: Hat hier irgendjemand eben eine superbrutale Niederlage erlitten? Wenn man es nicht besser wüsste, man hätte der SP freudig gratuliert. Tatsächlich schleppte sich die SP schwer verwundet vom Schlachtfeld:
- 65 Prozent der Zürcher halten die Elternzeit für überflüssig
- 65 Prozent wollten vom Stimmrechtsalter 16 nichts wissen
Gewiss, jeder darf für seine politischen Anliegen kämpfen – bis er umfällt. Aber zur Demokratie gehört nicht nur Beharrlichkeit, sondern auch Demut. Eine Niederlage kann man sich immer auf zweierlei Arten erklären:
- Vielleicht bedeutet sie ja wirklich, was die SP sagt: Dass man die Leute noch zu wenig davon überzeugt hat, wie klug, wie fortschrittlich, wie wunderbar eine Elternzeit oder ein Stimmrechtsalter 16 sind Der Stimmbürger als Problemkind, das in den Nachhilfeunterricht muss
- Oder man stellt sich der Selbstkritik. Könnte es sein, dass der Souverän recht hat: Dass diese Ideen nicht so klug, fortschrittlich und wunderbar sind? Die SP als Problempartei, die weder begreift noch akzeptiert, was der Bürger will
Kurz, man kann eine Niederlage auf zweierlei Arten entgegennehmen:
- mit Lernbereitschaft
- oder mit Arroganz
Derzeit, so mein Eindruck, neigt die SP zur Arroganz.
Tatsächlich hat sich in den vergangenen Jahren – besonders bei der Linken – ein Muster herausgebildet, das sich so beschreiben lässt:
- Wir bringen eine radikale Vorlage – das Volk versenkt sie mit 70 Prozent
- Es vergehen ein, zwei Jahre
- Wir bringen die gleiche radikale Vorlage noch einmal – das Volk lehnt sie mit 58 Prozent ab
- Und wieder gehen ein, zwei Jahre ins Land
- Wir bringen die Vorlage von neuem – und das Volk stimmt mit 51 Prozent zu
Reichen drei Versuche nicht, kommt es zu vier oder fünf – oder warum nicht auch sechs? Wir haben Zeit. Es wirkt, als ob die Linke testen möchte:
Wer hat mehr Geduld? Wir oder das Volk?
Jedenfalls werden die Stimmbürger so lange mit dem gleichen oder ähnlichen Anliegen behelligt, bis sie vor Erschöpfung Ja stimmen. Man könnte dieses Verfahren, das sich sämtliche Möglichkeiten der direkten Demokratie besinnungslos zunutze macht, auch so nennen:
- Zermürbungs-Demokratie
- oder die Revolution der Nervensägen
Gewiss, SP und Grüne sind nicht die einzigen, die so vorgehen, auch die SVP tut das, ebenso die bürgerliche Mitte, wenn auch noch seltener, – und trotzdem: Was die Zahl der Initiativen und Vorstösse in den Parlamenten anbelangt, die sich ad nauseam wiederholen, ist die Linke der Champion der Trotzkopf-Politik. Von Zwängerei, einem früher so wirkungsvollen Einwand, will sie nie etwas gehört haben.
Schliesslich, so entgegnen viele Linke wie Priska Seiler Graf, wenn man sie in diesem Zusammenhang kritisiert, wurde auch die AHV oder das Frauenstimmrechtsalter erst nach «mehreren Anläufen» eingeführt.
Und weil beide Errungenschaften heute als so selbstverständlich erscheinen, sind wir gehalten, jeden linken Vorschlag, er mag noch so schädlich oder unausgegoren sein, so oft zu prüfen, bis auch wir erkennen, wie segensreich und durchdacht er ist. Wer ist hier schwer von Begriff?
Wenn wir allerdings die Geschichte der AHV betrachten, dann sticht etwas anderes ins Auge:
- 1913 reichte ein Demokrat (nicht ein Sozialdemokrat) im Nationalrat eine Motion zur Einführung einer Alters- und Invalidenversicherung ein
- 1925 bejahten die Stimmbürger einen Verfassungsartikel, der eine AHV vorsah
- 1931, sechs Jahre später, scheiterte das entsprechende Gesetz in der Volksabstimmung
- 1947 hiessen die Schweizer die Einrichtung der AHV gut
Werbung für die AHV an der Maifeier 1947 (Bild: Sozialarchiv Zürich).
Zwischen Absturz und Triumph vergingen sechzehn Jahre – nicht ein, zwei Jahre. Noch brachte die SP in der Zwischenzeit ihr Anliegen dauernd von neuem vor, wie ein lästiges Kind, das nicht Ruhe gibt. Zugegeben, auch der Zweite Weltkrieg verzögerte die Dinge – doch entscheidender war eine ungeschriebene politische Regel:
Linke und Bürgerliche wussten und lebten, worin Demokratie eben auch bestand:
- In einer Demokratie darf man zwar immer wieder für seine Ideale einstehen
- Demokratie heisst aber auch, dass man als Verlierer dem Sieger, nämlich der Mehrheit der Stimmbürger, einen gewissen Respekt erweist. Und dieser Respekt wird mit einer Währung gemessen: Zeit, die vergeht
Davon ist heute nichts mehr zu spüren.
Am gleichen Sonntag forderte der Tages-Anzeiger, eine Zeitung, der die Vorlieben der Linken nicht ganz fremd sind, die SP bereits auf, es mit der Elternzeit noch einmal zu versuchen:
«Es braucht ein deutlich grösseres Engagement. Und es braucht einen langen Schnauf. Der Mutterschaftsurlaub wurde schliesslich auch erst nach mehreren gescheiterten Anläufen eingeführt.»
Nichts gesehen, nichts verstanden, nichts gelernt?
Oder gilt immer noch, was John Dryden, ein englischer Dichter des 17. Jahrhunderts, gesagt hat:
«Hüten Sie sich vor der Wut eines geduldigen Mannes!»
Ich wünsche Ihnen einen perfekten Wochenbeginn
Markus Somm