Somms Memo: Steht Putin vor dem Sieg oder steckt er im Elend?

image 22. April 2022 um 10:03
Strassenbild aus Mariupol, Ukraine im April 2022.
Strassenbild aus Mariupol, Ukraine im April 2022.
Die Fakten: Wladimir Putin verkündet die Einnahme von Mariupol. Damit rückt er dem Ziel näher, eine Landbrücke zur Krim zu bilden. Die Ukraine bittet den Westen um mehr Hilfe.
Warum das wichtig ist: Trotz mutmasslichem Sieg in Mariupol: Seit zwei Monaten kommen die Russen kaum voran. Das Prestige ihrer Armee hat gelitten. Putin ist entzaubert.

Es ist vielleicht der dümmste Satz, den ich je gelesen habe:
«Natürlich hat die Ukraine ein Recht auf Selbstverteidigung»,
sagte der deutsche Philosoph Richard David Precht vor einigen Wochen:
«aber auch die Pflicht zur Klugheit, einzusehen, wann man sich ergeben muss.»
Wäre es also besser gewesen:
  • Die Briten hätten im Sommer 1940 die «Pflicht zur Klugheit» bewiesen und sich dem deutschen Diktator Hitler ergeben? Ihr Kampf allein gegen die Deutschen, die gerade halb Europa niedergeworfen hatten, war doch aussichtslos
  • Oder warum sich für ein freies West-Berlin einsetzen? Wäre es nicht klüger gewesen, der Westen hätte 1948 Berlin den Russen ausgeliefert? Stalin hatte ganz Osteuropa im Griff, warum Berlin verteidigen, ja warum die BRD?

Mit anderen Worten, Precht ermahnt den Überfallenen, dem Angreifer nicht allzu lästig zu fallen.
Seine Perspektive ist die Perspektive einer Grossmacht, die es nicht versteht, dass es so etwas Entbehrliches wie kleinere Länder gibt. Es ist das Recht des Stärkeren, dem er hier das Wort redet, denn zu Ende gedacht, fordert er die Gewaltigen und Mächtigen dieser Welt geradezu auf, sich auf Eroberungszüge zu begeben:
  • Solange man über mehr Soldaten und Waffen verfügt, darf man erwarten, dass der Schwächere klug genug ist, sich innert nützlicher Frist zu unterwerfen
  • Das Opfer hat zwar das Recht, sich zu verteidigen, meint Precht, aber auch die Pflicht, sich zu fügen, weil das klug ist
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Neusprech: Volksversammlung im Film 1984 nach George Orwell.
George Orwell, der britische Autor, hat in seinem Buch «1984» vorweggenommen, was Precht im Jahr 2022 tut. In Orwells futuristischen Roman erfinden die Behörden einer totalitären Diktatur eine neue Sprache, «Newspeak», zu Deutsch: Neusprech
  • Politische Gefangene sind «Gedankenverbrecher»
  • Die KZ werden «Lustlager» genannt, betrieben vom «Ministerium für Liebe»
  • Die Parolen des Regimes lauten: «Freiheit ist Sklaverei!» «Unwissen ist Stärke!» «Krieg ist Frieden!»
Wenn wir Precht auf Neusprech übersetzen, dann sagt er sinngemäss:
  • Helden sind Feiglinge
  • Feiglinge sind Helden
Wie so oft, wenn Intellektuelle klug tun, sind sie selten klug: Hätte Precht vorausgesehen, dass die Ukrainer sich so lange zu verteidigen imstande sind, dann wäre ihm vielleicht ein anderer Satz eingefallen. Vermutlich rechnete er mit ein paar Tagen des Widerstandes, nun sind daraus bereits zwei Monate geworden.
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Tatsache ist: Die zu Beginn als unschlagbar geltende russische Armee tut sich sehr schwer in der Ukraine.
  • Zuerst, so jedenfalls glauben die militärischen Geheimdienste des Westens, wandte Putin die amerikanische Methode des «Shock and Awe» an: Mit «Schrecken und Furcht» wollte er die Regierung von Wolodimir Selenski dermassen demoralisieren, bis sie freiwillig abgetreten wäre, um einem Regime von Moskaus Gnaden Platz zu machen
  • Zu diesem Zweck bombardierten die Russen Kiew, Charkow, ja sogar Lemberg – mit aller Gewalt, mit seltener Unverfrorenheit, ohne Rücksicht auf zivile Verluste
  • Es ging darum, die ukrainische Regierung gleichermassen zu «enthaupten». Selenski, dem Comedian, den man verachtete, sollte das Lachen ein- für allemal vergehen

Unter diesem Eindruck standen auch die Amerikaner. Und ähnlich wie Precht hatten sie die Niederlage der Ukrainer wohl bereits eingeplant. Deshalb boten sie Selenski sofort an, ihn aus Kiew auszufliegen. Was dieser ablehnte.
Seither ist er zum Helden der Ukraine aufgestiegen, dessen scheinbar unbesiegbares Charisma die Politiker weltweit erbleichen lässt.
Alle wollen mit ihm reden, alle suchen ihn auf, alle versprechen ihm das Blaue vom Himmel, und wer seine Versprechen nicht einhält, den trifft die Verdammung aus Kiew, wie etwa die deutsche Regierung von Kanzler Olaf Scholz in Berlin. Nach Wochen des Widerwillens soll sie nun bereit sein, mehr Waffen zu liefern. Moralisch und politisch ist sie angeschlagen.
Auf einzelne Menschen kommt es an. Das lehrt der Ukraine-Krieg.
  • Selenski wurde zum Zentralnervensystem des ukrainischen Widerstands
  • Putin stieg ab. Selbst die Chinesen dürften sich in schlaflosen Nächten fragen, ob sie ihn nicht überschätzt haben

Zwar hat Putin die «zweite Phase» seiner «Spezialoperation» eingeleitet, wie er es nennt, also ob die «erste Phase» erfolgreich abgeschlossen worden wäre. Was offensichtlich nicht der Fall ist.
So gut wie alle Truppen wurden aus dem Raum Kiew abgezogen und sind in den Osten der Ukraine verlegt worden. Hier sollen sie nun Quadratmeter für Quadratmeter Territorium besetzen, das Russland vermutlich nie mehr aufgeben will.
Doch auch dieser zweite Anlauf kommt nicht recht voran.
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Vladimir Putin und sein Verteidungsminister Sergei Schoigu. Auftritt fürs Fernsehen im April 2022.
Wenn Putin sich nun für das Fernsehen mit seinem Verteidigungsminister Sergei Schoigu zusammensetzt und die beiden wie zwei etwas unbegabte Schauspieler eine Lagebesprechung vornehmen, wo Putin die «Befreiung» von Mariupol verkündet, dann dürfte sich das russische Publikum nicht ganz entspannt zurückgelehnt haben
  • Die Russen fühlten sich eher wie Eltern, die den Auftritt ihres Sohnes in einem Schülertheater erleben: Man schwankt zwischen Scham und Verzweiflung
  • Denn Putin meldete zwar die Einnahme von Mariupol, räumte aber zugleich ein, dass die Ukrainer immer noch eine letzte Bastion hielten, ein Stahlwerk, das ebenfalls zu besetzen, so Putin, sich nicht lohne. Rund 2000 ukrainische Soldaten harren dort noch aus
Triumph oder Elend? Seit acht Wochen haben die Russen versucht, die strategisch so bedeutende Hafenstadt zu erobern. Was ein Sonntagsspaziergang durch befreites, russisches Gebiet hätte sein sollen, ist zum Trauermarsch durch ein Tal der Tränen verkommen. Nun soll es so weit sein. Und doch ist der Preis, den die Russen dafür bezahlt haben, enorm.
Putin ist entzaubert, seine Armee – selbst wenn sie noch gewinnen sollte – hat sehr viel von ihrem einstigen Glanz verloren.
«Ich halte Ausmass und Wirkung der russischen Kriegsanstrengungen für eine der grössten militärischen Errungenschaften der Weltgeschichte», sagte der amerikanische General Douglas MacArthur.
Er sprach vom Zweiten Weltkrieg – nicht von Mariupol.

Ich wünsche Ihnen ein erholsames Wochenende. Das nächste Memo erscheint in einer Woche, weil ich mit meinem jüngsten Sohn Hans nach Venedig fahre.
Markus Somm

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