Somms Memo #62 - Gewinnt Putin? Zwei Szenarien
Der russische Präsident Wladimir Putin.
Warum das wichtig ist: Im Krieg um die Ukraine zeigt sich eine tödliche Asymmetrie. Für Putin ist eine Niederlage keine Option. Solange er den Westen als schwach ansieht, hört er nicht auf. Der Westen dagegen schwankt zwischen etwas Mut und viel Angst.
Umso kriegerischer US-Präsident Joe Biden seine Rhetorik erscheinen lässt, umso sicherer wissen wir, dass er nichts mehr fürchtet als den Krieg. Der Mann, der da droht, hat mehr Angst vor den eigenen Drohungen als der, den er damit bedroht.
Zwar warnt er Putin vor strengsten Konsequenzen – wie dieses Wochenende, falls Putin chemische Waffen einsetzen sollte – aber bis jetzt haben sich die strengsten Konsequenzen noch nie als die denkbar strengsten herausgestellt.
Putin, der grausame, schlaue Fuchs, weiss das. Deshalb hat ihn bislang noch keine Drohung von Biden in irgendeiner Weise zurückgehalten. Ungerührt führt er den Krieg mit aller Härte weiter.
Das mag daran liegen, dass Biden ihm stets zwei Botschaften übermittelt, eine explizite und eine implizite:
- Du darfst genau das auf gar keinen Fall tun, sagt er mit grimmiger Stimme
- Aber alles andere, was ich nicht erwähne, darfst Du, flüstert er ihm ins Ohr
Wer Kinder hat, weiss, wie schnell ein Kind das begreift. Und Putin ist kein Kind, sondern hat viele Kinder.
- Indem die USA so oft wiederholt haben, dass jeder Angriff auf ein Nato-Land zu einer militärischen Reaktion führen würde, hat er implizit Putin einen Blankocheck ausgestellt für den Rest der Ukraine. Hier kann der russische Kriegsherr offenbar tun und lassen, was er will. Die Nato wird ihn nie daran hindern
- Putin spielt mit Biden. Wenn Biden ihm zuliebe den Polen faktisch untersagt, ihre MiG-Kampfflugzeuge den Ukrainern zu überlassen, dann bedankt sich Putin, indem er Ziele im Westen der Ukraine, ganz nah an der polnischen Grenze, mit Raketen beschiessen lässt. Sachdienlicher Hinweis: Ich kann auch anders
Der Appetit kommt mit dem Essen: Je mehr Biden nachgibt, als desto schwächer nimmt ihn Putin wahr – und handelt entsprechend.
Was wir derzeit erleben, ist der Zusammenbruch einer Politik, die so tut, als ob sie auf Abschreckung setzte, aber in Tat und Wahrheit dem Gegner zuverlässig zu verstehen gibt, dass man nicht bereit ist, bis zum Äussersten zu gehen.
Viel Theater, viel Applaus, aber auf der Bühne sterben die Menschen
Gewiss, Putin hat sich verschätzt – und es gibt keinen Grund, ihn für besonders begabt zu halten. Die russische Kriegsmaschine stottert – und anstatt sie besser zu ölen, gibt Putin einfach Gas, bis womöglich der Motor in Brand gerät. Das kann sein.
Die ukrainische Hauptstadt Kiew wurde mit Raketen beschossen.
Ebenso dürfte Putin überrascht haben, dass der Westen so einschneidende Wirtschaftssanktionen beschlossen hat. Russland steht wirtschaftlich am Abgrund.
In einem Punkt hat sich Putin aber nicht geirrt – vielmehr haben ihn die Ereignisse der letzten Tage bestätigt.
- Der Westen traut sich nicht, militärisch einzugreifen
- und Joe Biden ist ein schwacher Präsident, der aus seinen Fehlern selten lernt
Gewinnt Putin? Solange der Westen nur auf Sanktionen und diplomatischen Druck setzt, kann ich nicht erkennen, warum Putin diesen Krieg verlieren sollte. Die Überlegenheit der russischen Truppen ist immens, und Putins Willen zur Brutalität scheint grenzenlos.
Zwei Szenarien halte ich momentan für am wahrscheinlichsten:
- Putin bombardiert die Ukraine solange, bis die Ukrainer aufgeben. Der Westen wird weiter sanktionieren und protestieren – doch die Ukraine ist wieder russisch. Auf lange Sicht. Was will Putin mehr? Putin denkt nicht in Jahren, sondern in Jahrhunderten. Ihn kümmert das Russische Reich, nicht die russische Wirtschaft
- Wolodimir Selenski, der tapfere Präsident der Ukraine, kommt ebenfalls zum Schluss, dass Joe Biden zu schwach ist. Also versucht er mit Putin ins Gespräch zu kommen, um einen Deal zu erreichen, bevor sein Land untergeht
Wolodimir Selenski, Präsident der Ukraine.
Wie könnte ein solcher «Kompromiss» aussehen?
- Putin erhält definitiv die Krim und die beiden abtrünnigen Provinzen in der Ostukraine – vielleicht verlangt er noch etwas mehr Territorium
- die Ukraine erklärt sich für neutral. Es verzichtet auf eine Nato-Mitgliedschaft und schwört einem EU-Beitritt ab
- Im Gegenzug stellt Putin den Krieg ein und sichert einer Rest-Ukraine die Weiterexistenz als mehr oder weniger «unabhängigem Staat» zu
- Und Selenski bleibt am Leben. Vielleicht sogar als Präsident
Zwar hielte ich einen solchen Kompromiss aus Sicht des Westens für einen Frieden der Schande. Ein Kriegsverbrecher würde für seine Verbrechen belohnt. Ein Dieb könnte nicht nur behalten, was er gestohlen hatte, sondern man schenkte ihm noch ein paar wertvolle Gemälde dazu.
Es wäre auch ein Frieden der Torheit. Zumal die geopolitischen Folgensich als unabsehbar, ja fatal erweisen könnten: Was hielte China oder Iran davon ab, bei Putin in die Schule zu gehen, um zu lernen, wie man den Westen besiegt, ohne mit ihm kämpfen zu müssen?
Doch gerade, weil ein solcher Friede so ehrlos und kurzsichtig wäre, befürchte ich, könnte es dazukommen.
Hat sich der Westen in den vergangenen Jahren nicht genauso verhalten? Ehrlos und kurzsichtig.
«Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt», skandierte die Linke im Westen einmal. Ich gehörte auch dazu. Das ist lange her.
«Wer sich wehrt, dem widmen wir einen Facebook-Eintrag», heisst es heute.
Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Tag
Markus Somm