Somms Memo #53 - Was ein israelischer General von Putins Krieg hält
Wolodimir Selenski
Warum das wichtig ist: Putin hat die Ukraine unterschätzt – so wie der Westen Putin falsch eingeschätzt hat. Sein Krieg wird brutaler – aber auch schwieriger. Die Zeit läuft ihm davon.
Zu Beginn schien alles so einfach – aus russischer Sicht. Um die Ukraine zu bezwingen, so Putins Kalkül, genügten:
- ein paar gezielte Bombardierungen
- etwas Cyberkrieg, wie ihn die Russen so meisterhaft beherrschen
- viel Propaganda – sie kann nicht plump genug sein
«Wer im Kreml glaubte denn, dass die Ukrainer kämpfen würden?»,
sagt Yair Golan, Generalmajor und ehemaliger stellvertretender Generalstabschef der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte IDF.
Seit den 1980er Jahren hat er so gut wie jeden Krieg seines Landes an vorderster Front mitgemacht. Er war Chef sowie des Heimatfront-Kommandos als auch des Nordkommandos, das unter anderem für den Schutz Israels gegen Syrien und Libanon zuständig ist. Heute sitzt Golan als stellvertretender Wirtschaftsminister für die linksliberale Meretz in der israelischen Regierung; zudem ist er Abgeordneter in der Knesset, dem israelischen Parlament.
Yair Golan, ehemaliger Stellvertretender Generalstabschef der israelischen Armee.
Ich bin seit Jahren mit Yair befreundet, wir haben zusammen in Harvard studiert, und wann immer ich als einstiges GSoA-Mitglied um militärische Expertise froh bin, rufe ich ihn an.
«Natürlich nahm Putin den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski nicht ernst. Nie hätte er sich wohl vorgestellt, dass die Ukrainer diesem ehemaligen jüdischen Comedian in den Krieg folgen. Who cares about this little funny guy?»
Zumal viele Ukrainer in der Vergangenheit als gewalttätige Antisemiten aufgefallen waren. Ob im Zarenreich, in den 1920er Jahren oder zur Zeit der Besetzung durch die Nazis: Immer plagten, verfolgten, töteten Ukrainer mit, wenn es gegen die Juden ging. Einheimische wie sie selbst. Noch 1939 waren rund 5 Prozent der ukrainischen Bevölkerung Juden – bis die Nazis kamen und Millionen von ihnen massakrierten.
Und jetzt ist ausgerechnet in diesem Land ein Jude zum Nationalhelden aufgestiegen.
«I don’t need a ride, I need ammunition!»,
sagte Selenski, als ihm die Amerikaner anboten, ihn aus Kiew auszufliegen.
Sein Mut, sein Widerstand war nicht bloss Stoff für einen Film, den Hollywood dann einmal in sicherer Distanz dreht, wenn alles vorbei ist. Yair Golan, der die psychologischen Seiten des Krieges aus eigener Erfahrung kennt, sagt:
«Selenski war entscheidend dafür, dass die Ukrainer den ersten Ansturm so tapfer über sich ergehen liessen. Er war auch entscheidend dafür, dass der Westen seine Meinung über die Ukraine über Nacht revidierte.»
Vor dem 24. Februar 2022 glaubten viele im Westen, was die Russen von der Ukraine behaupteten:
- das ist gar kein richtiges Land, und wenn dann ein korruptes, dysfunktionales
- die Ukraine ist ein Marionettenstaat – von westlichen Gnaden
- Russen und Ukrainer sind doch dasselbe. Gibt es denn eine ukrainische Nation?
Der Krieg hat den Westen eines Besseren belehrt. Und den arroganten Grossrussen Putin ebenso.
Was haben die Russen militärisch gesehen bisher falsch gemacht? General Golan:
«Putin hat eine der ersten Kriegsregeln verletzt: Unterschätze nie Deinen Feind! Nun haben die Russen ihren Ansatz über den Haufen geworfen und kehren zu den Grundsätzen des Krieges zurück. Putin wird nun die volle Überlegenheit der russischen Armee ausspielen.»
- Noch mehr Truppen, mehr Panzer, mehr Flugzeuge
- Noch mehr Schläge
- Dabei geben sich die Russen keine Mühe mehr, Zivilisten zu schonen
Tatsächlich fiel zu Beginn des Krieges auf, wie die Russen sehr präzise Angriffe ausführten, um jeden unerwünschten Kollateralschaden zu vermeiden, so wie dies westliche Militärs routinemässig tun. Inzwischen ist von dieser Zielgenauigkeit nicht mehr viel zu spüren. Wenn Putins Soldaten bombardieren, dann alles, was sich bewegt, ohne Rücksicht auf die Folgen, ohne Rücksicht auf Frauen, Kinder oder alte Menschen.
Dabei warnt Golan davor, nun unsererseits die Russen zu unterschätzen. Worin liegen ihre Stärken? Golan:
«Die russische Armee ist traditionell sehr stark, wenn es um das Strategische geht. Im Zweiten Weltkrieg waren die russischen Generäle den Deutschen in dieser Hinsicht klar überlegen. Die russischen Generäle sind exzellente Strategen.»
Diese Tradition ist bis heute lebendig geblieben, was sich laut Golan auch in den Angriffsplänen auf die Ukraine widerspiegelt, die er aus militärischer Sicht für ausgezeichnet hält. Eine weitere Stärke liegt in der Bewaffnung.
«Ihre Kampfpanzer, ihre Flugzeuge, ihre Raketen sind hoch modern und überaus effektiv. Sie sind in der Regel sogar besser als die amerikanischen Waffen.»
Allerdings laborieren die Russen auch an Schwächen, die sie seit jeher nicht überwunden haben. Golan sagt:
«Die russische Armee ist strikte von oben nach unten organisiert, es wird top-down geführt, nicht bottom-up. Das wirkt sich im Taktischen aus. Taktisch sind die Russen sehr mittelmässig. Das hängt damit zusammen, dass sie dem einzelnen Soldaten wenig Aufmerksamkeit schenken.»
Zerstörter russischer Panzer in der Ukraine am 26. Februar 2022.
Das erklärt die Bilder, die wir heute so zahlreich im Fernsehen beobachten können:
- Verlassene Panzer, denen der Sprit ausgegangen ist
- Untätig herumhockende Soldaten, die nicht wissen, was sie dort tun
- Panzersoldaten, die ihre Panzer umdrehen, wenn ein ukrainischer Bürgermeister sie auf Russisch zusammenstaucht
«Was die Taktik anbelangt, waren die Russen etwa der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg krass unterlegen. Die Deutschen sind im Taktischen wohl die besten Soldaten der Welt überhaupt. Das ist heute noch der Fall.»
Gewiss, wenn wir die Kräfteverhältnisse allein betrachten, dann bleibt der Widerstand der Ukrainer ein verzweifelter. Auch wenn die Regel gilt, dass ein Angreifer stets drei Mal mehr Truppen benötigt – über Truppen verfügt Putin mehr als genug.
Allerdings läuft ihm die Zeit davon. Noch ist die Ukraine nicht verloren. Yair Golan ist überzeugt:
«Zwei Wochen hat Putin Zeit, um diesen Krieg für sich zu entscheiden. Dann wird es für ihn innenpolitisch, aussenpolitisch und wirtschaftlich sehr schwierig.»
Oder wie es Carl von Clausewitz, der deutsche militärische Vordenker, einmal formuliert hat:
«Es ist im Kriege alles sehr einfach, aber das Einfachste ist schwierig.»
Ich wünsche Ihnen einen zuversichtlichen Tag
Markus Somm